Grüne Grenzgängerin
Umwelthauptstadt oder „Grüne Hauptstadt Europas“ – für Valencia schien dieses Prädikat, das die EU-Kommission seit 2010 alljährlich an eine Stadt in einer Vorreiterrolle vergibt, längst überfällig. Nach Tallin im Vorjahr sowie Lahti und Grenoble in den Jahren 2021 und 2022 ist in diesem Jahr Spaniens drittgrößte Metropole an der Reihe. Antonio García, Valencias Generaldirektor in Sachen Grüne Hauptstadt, schaut zurück: In den 1980er-Jahren verwandelten die Stadtplaner das trockengelegte Flussbett des Rio Turia über eine Länge von neun Kilometern in einen der schönsten spanischen Parks – und nicht, wie ursprünglich angedacht, in eine Autobahn. „Das war der Startpunkt für Nachhaltigkeit“, sagt García, wenngleich der Begriff im heutigen Sinn damals noch nicht populär war. Für García bedeutet der Titel der Grünen Hauptstadt den „Lohn für die Vergangenheit und Ansporn für die Zukunft“.
Geschenke der Natur
Im Hinblick auf ihr Naturpotenzial bringt Valencia über den Jardín del Turia hinaus beste Voraussetzungen mit: das Mittelmeer mit den Sandweiten des Strands El Cabanyal, die Obst- und Gemüsefelder des historischen Anbaugebiets „Huerta“ vor den Toren der Stadt und südlich den Naturpark Albufera mit einem riesigen Süßwassersee, der nur durch eine Sanddüne vom Mittelmeer getrennt ist. Bei einer Bootstour schippert man durch eine Szenerie aus Sümpfen, Kanälen und Reisfeldern. Zudem ist der See ein Vogelparadies, über 300 Arten sind dokumentiert. Unterwegs deutet Kapitän Jaume Dasi auf eine Kolonie von Ibissen. Nur die Flamingos sind heute ausgeflogen.
Jaume Dasi ist froh, dass es bald eine Neuerung gibt, die ins grüne Hauptstadtjahr passt, aber damit nichts zu tun hat. Bei den Booten werden die Diesel- endlich durch Elektromotoren ersetzt. „Das ist auch für mich besser wegen des Lärms“, sagt der 40-Jährige.
Geht der Spagat auf?
Apropos Lärm und bessere Luft: In Valencias Altstadt sind in jüngster Vergangenheit drei Hauptplätze in Fußgängerzonen verwandelt worden. Dort, wo vormals Sightseeing-Busse selbst nahe der Kathedrale vorbeidröhnten, atmet man nun auf. Folgt man einem Bericht der spanischen Digitalzeitung „El Confidencial“, waren vier von fünf Anwohnern der Zone mit den Maßnahmen der Verkehrsberuhigung einverstanden. Neue Grünakzente setzen Palmen, Olivenbäume und Pflanzenkübel. Dennoch bleibt die Schwierigkeit bestehen, eine 840.000-Einwohner-Stadt mit breiten, verkehrsreichen Straßen und einer nervigen Rushhour in der Gesamtheit als klimafreundlich darzustellen.
Antonio García führt an, dass das Radwegenetz in und um die Stadt auf mittlerweile 190 Kilometer angewachsen sei, und er unterstreicht: „Die Nutzung von Rädern ist in der DNA der Valencianer angekommen.“ Trotzdem lassen sich mit Rädern oder öffentlichen Verkehrsmitteln nicht alle Einkäufe erledigen. Überdies sind aus spanischer Sicht die Preise auf dem unter Touristen beliebten Zentralmarkt reichlich überzogen. Das erschwert, lokale Produzenten und das „Null-Kilometer-Konzept“ mit minimalen Transportwegen und geringer Umweltbelastung zu unterstützen. Frisch aus der „Huerta“ klingt schön und gut. Aber warum kostet ein Kilo Tomaten fünf Euro und ein Kilo Mandarinen bis zu 3,30 Euro? Da greifen manche Käufer lieber in Supermärkten zu Billigimporten.
Nicht ganz so grüne Tradition
Im März, wenn Valencia seine „Fallas“ feiert, ein rund 200 Jahre altes Volksfest und seit 2016 auf der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit, kann von weniger Lärm und Luftreinheit, wichtigen Indikatoren einer grünen Hauptstadt, nicht mehr die Rede sein. Die Fallas zählen zu den lautesten und kontaminationsreichsten Volksfesten Spaniens. Unter Knallkörpern entlädt sich allerorten die Freude. Und in der „Nacht des Feuers“ vom 19. auf den 20. März gehen hunderte Figuren und Ensembles aus Holz und Pappmaché in Rauch und Flammen auf und begrüßen symbolisch das Frühjahr.
Eine überflüssigere Umweltbelastung ist kaum möglich, doch Tradition ist Tradition. Darauf will selbst in der Umwelthauptstadt Europas niemand verzichten.
Zurück zur Stille im Bett des Turia
Wer ungetrübte Luft liebt, kommt besser vor oder nach den Fallas. Ideales Fortbewegungsmittel ist das Rad. Da strampelt man ans Meer und bis zur Marina, durch die fruchtbare Huerta oder das alte Bett des Turia, einen der längsten Flussparks Europas. Palmen und Kiefern säumen die Strecke, Oleander, Orangenbäume, Bougainvilleen, dazu die Wassergärten der „Stadt der Künste und Wissenschaften“, Monumentalwerk des Stararchitekten und gebürtigen Valencianers Santiago Calatrava. Eindrücke und Farben explodieren – und das in aller Stille.
Weitere Infos
Die Eröffnungsveranstaltung findet am 11. und 12. Januar im Musikpalast von Valencia statt.
Direktflüge nach Valencia gibt es unter anderem ab München, Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart und Düsseldorf.
Im Laufe des Jahres sind knapp 400 Programmpunkte rund ums Thema der Grünen Hauptstadt Europas geplant.
Radverleih: Es gibt diverse Anbieter, unter anderem Doyoubike, Passion Bike Serranos und The Easy Way. Auch geführte Biketouren sind im Angebot.