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Blick auf den Vinicunca im Süden Perus, ein Bergrücken in RegenbogenfarbenBlick auf den Vinicunca im Süden Perus, ein Bergrücken in Regenbogenfarben. Foto: Vinicunca, Peru, by McKayla Crump/Unsplash
Frage der Woche

Wem gehört Mutter Erde?

In der indigenen Weltsicht ist „Mutter Erde” ein mystisches Wesen mit eigenen Rechten. Uns im Westen mutet das seltsam an. Aber wir können die Rechte der Natur auch aus unserer weltlichen, aufklärerischen Rechtstradition ableiten, sagt Philosoph Tilo Wesche im Interview.
Foto: Vinicunca, Peru, by McKayla Crump/Unsplash

Als Mariluz Canaquiry im peruanischen Nauta am 9. Dezember 2023 vor der Richterin darlegte, warum der Fluss Marañón ein eigenes Recht erhalten sollte, berief sie sich auf ihre Ahnen und auf ihren vor Jahren im Fluss verschwundenen Cousin: „Er lebt in einer Stadt unter dem Marañón weiter.” Davon ist die 56-jährige Frau vom Volk der Kukama überzeugt. Der Fluss Marañón, an dem sie aufgewachsen ist, kann besser geschützt werden, wenn er als Person mit Rechten gesehen wird. „Er ist wie unser Kind, wir müssen auf ihn aufpassen”, sagt Mariluz Canaquiry, selbst vielfache Mutter und Großmutter.

Im Amazonas-Städtchen Nauta bedeutet dies vor allem, den Fluss zu schützen vor dem Erdöl, das immer wieder in den letzten Jahrzehnten aus einer alten Pipeline ausgetreten ist, Fische tötete und das Wasser für den menschlichen Gebrauch ungenießbar machte. Eine andere Rechtsgrundlage gäbe dem Fluss auch ein Argument gegen das Vorhaben des peruanischen Staates, den Fluss zu einer breiten Wasserstraße für den Handelsverkehr auszubaggern. In den nächsten Monaten muss die Richterin in Nauta entscheiden, ob sie dem Anliegen von Mariluz Canaquiry und ihrer Frauenorganisation Huaynakana nachkommen und dem Marañón eine eigene Rechtspersönlichkeit zusprechen wird.

Mariluz Canaquiry hat als Präsidentin der Frauenorganisation der Kukama vor Gericht beantragt, dass der Fluss Marañón eigene Rechte erhält. Die Entscheidung der Richterin steht noch aus.
Mariluz Canaquiry hat als Präsidentin der Frauenorganisation der Kukama vor Gericht beantragt, dass der Fluss Marañón eigene Rechte erhält. Die Entscheidung der Richterin steht noch aus.Foto: Hildegard Willer

Mariluz Canaquiry in Peru ist mit ihrem Anliegen nicht allein, einen Fluss, Berg oder ein Ökosystem mit eigenen Personenrechten auszustatten und dadurch besser zu schützen. An die 400 Verfahren liefen oder laufen weltweit. Vorreiter sind dabei Neuseeland, Ecuador oder Spanien. Sehr oft wird das Recht der Natur mit der Kosmovision der indigenen Völker begründet. Ein Berg, ein Fluss, ein Feuchtgebiet gilt als heilig.

„Was bedeutet es, Eigentum an der Natur zu haben?“

Tilo Wesche, Universität Oldenburg

Wie aber kann ein Eigenrecht der Natur in einem Land wie Deutschland begründet werden, wo niemand mehr an Germanengötter glaubt, die im Wald hausen? Tilo Wesche, Professor für praktische Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, hat sich darüber Gedanken gemacht.

Der Philosophieprofessor Tilo Wesche von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg begründet das Recht der Natur mit dem westlichen Eigentumsrecht.
Tilo Wesche, Philosophieprofessor an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, begründet das Recht der Natur mit dem westlichen Eigentumsrecht.Foto: Universität Oldenburg

Herr Wesche, wie sind Sie als Professor für praktische Philosophie auf das Thema „Rechte der Natur“ gestoßen?

Zum einen habe ich mich gefragt, was uns in der ökologischen Debatte hinsichtlich Erderwärmung, Artensterben, globale Vermüllung und Ressourcenerschöpfung eigentlich fehlt. Uns fehlt es nicht an Wissen, sondern an Alternativen, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen. Dabei geht es mir nicht um große Utopien, sondern darum, wie wir uns auf eine nachhaltige Gesellschaft hinbewegen können. Zum anderen habe ich mich viel mit Eigentumstheorien beschäftigt und von daher war es naheliegend, die Fragen zu stellen: Wem gehört die Natur? Und was bedeutet es, Eigentum an der Natur zu haben?

Wie hat man im Westen historisch die Beziehung zwischen Eigentum und Natur verstanden?

Ich war überrascht zu sehen, dass sowohl in religiösen als auch kulturellen Traditionen die Natur nicht dem Menschen gehört. Es gibt die Vorstellung, dass Gott Eigentümer der Natur ist, weil er die Welt geschaffen hat. In Neuseeland gehört der Fluss Wanganui den Ahnen, das ist auch ein Eigentumsverhältnis.

Aber wir leben heute in Europa in säkularen Gesellschaften. Es wird schwierig, dass wir uns hier auf unsere Ahnen oder auf Gott beziehen, um die Natur zu schützen.

Genau deswegen wollte ich wissen, was diese Vorstellungen in säkularen Gesellschaften bedeuten. Wir können viel lernen von anderen Ländern, aber wir sollten das nicht eins zu eins übernehmen, sondern diesen Gedanken aus unserer eigenen Rechtstradition herleiten.

Die Vorstellung, dass die Natur niemandes Eigentum ist, kam erst in der Neuzeit auf. Der Philosoph John Locke war einer der ersten, der diese Idee im 17. Jahrhundert vertrat: Die Natur gehört niemandem, aber wir Menschen brauchen sie und dürfen sie uns deswegen aneignen. Die Vorstellung, dass die Natur niemandem gehört, ist ein kulturell und historisch geprägtes Narrativ. Doch durch diese Aussage wird die Natur zum Sacheigentum.

Was ist denn die Folge, wenn ich sage, ich besitze, zum Beispiel, einen Wald?

Wenn man von Eigentum spricht, erzeugt man die Fiktion, dass man an jeglichen Dingen auf gleiche Weise Eigentum haben kann. Als könne man von der Natur, zum Beispiel von einem Wald, genauso Gebrauch machen wie von Sacheigentum. Diese Weichenstellung führt in die falsche Richtung.

Ich dagegen stelle die Frage: Worauf gründen sich eigentlich unsere Eigentumsrechte im globalen Norden? Es ist die Vorstellung, dass derjenige, der einen Beitrag zur Wertschöpfung leistet, damit auch Eigentumsrechte an den geschaffenen Werten erwirbt. Einfach gesagt: Wer etwas erzeugt, dem gehören die Erzeugnisse. Deutlich wird das im Patentrecht. Auch bei Thomas von Aquin finden wir die Begründung, dass Gott Eigentümer der Welt ist, weil er ihr Schöpfer ist.

„Die Natur ist Eigentümerin natürlicher Ressourcen, weil sie diese erzeugt.“

Wenn wir diese Regel anwenden, sehen wir, dass auch die Natur zur Wertschöpfung beiträgt. Sei es durch die Befruchtung von Blüten durch Bienen, die Reinigung von Wasser durch die Böden, die Umwandlung von CO₂ in Sauerstoff durch die Fotosynthese, und viele weitere Ökosystemdienstleistungen. In Bezug auf die Natur gilt dasselbe, was wir in Bezug auf unsere Arbeit sagen: Wer etwas erzeugt, erwirbt Eigentum daran. Es gibt also keinen Grund bei uns im globalen Norden, der Natur Eigentumsrechte vorzuenthalten. Die Natur ist Eigentümerin natürlicher Ressourcen, weil sie diese erzeugt.

Welche Bedeutung hat es, wenn wir der Natur ein Eigentumsrecht zugestehen?

Jedes Eigentum muss geschützt werden vor dem Missbrauch durch andere. Wenn Sie ein Buch aus der Bibliothek ausleihen, dürfen Sie es benutzen, aber nicht bekritzeln oder Seiten herausreißen. Denn es ist nicht Ihr Eigentum.

Genauso ist es mit Naturgütern. Wenn Menschen Naturgüter nutzen, dann nutzen sie fremdes Eigentum und sind deswegen verpflichtet, sorgfältig damit umzugehen. Aus dem Eigentumsrecht der Natur ergeben sich Nachhaltigkeitspflichten. Die Menschen dürfen diese Güter nur nachhaltig nutzen, ohne sie kaputtzumachen.

Detailliertes Bild eines Kindes, das durch das Watt wandert.
Beispiel Wattenmeer: Mit der Anerkennung als UNESCO-Weltnaturerbe sind Deutschland, Dänemark und die Niederlande auch gegenüber der Weltgemeinschaft verpflichtet, den außergewöhnlichen universellen Wert der Natur im Wattenmeer zu erhalten.Foto: Stella Costa/iStock

Was bringt diese neue Kategorie der Eigentumsrechte der Natur? Reichen die gültigen Umweltschutzgesetze nicht aus?

Selbst wenn ein Gebiet mit der höchsten Naturschutzkategorie ausgewiesen ist, hindert das den Gesetzgeber nicht unbedingt daran, dort eventuell Ressourcen auszubeuten. Ein Beispiel ist das Wattenmeer: trotz höchster Schutzkategorie gibt es Diskussionen, ob man dort Erdöl und Gas fördern darf. Wenn man sich die ökologischen Krisen anschaut, dann steht immer auf der einen Seite die Natur und auf der anderen Seite jemand mit Eigentumsrecht. Wenn ein Unternehmen Wald besitzt, darf es die Kohle darunter ausbeuten. Das Eigentumsrecht ist so stark, dass es in der Regel Nachhaltigkeitsbelange aushebelt.

Wenn die Natur ein eigenes Eigentumsrecht hat, steht es gleichwertig neben anderen Eigentumsrechten und ist nicht mehr verhandelbar.

Wie reagieren Ihre Fachkolleginnen und -kollegen auf Ihre Thesen?

Oft geben sie mir recht. Problematisch wird es eher, wenn ich mit Politikerïnnen diskutiere, selbst mit solchen, die sich den Schutz der Natur auf die Fahnen geschrieben haben. Denn sie meinen, die Rechte der Natur hätten etwas damit zu tun, dass ein Berg oder Fluss heilig sei. Aber genau das spielt in meiner Argumentation keine Rolle.

Was würde sich denn konkret ändern, wenn die Natur Eigentumsrechte bekäme?

Einerseits könnten wir dann nicht mehr sagen, das Unternehmen XY sei alleinige Eigentümerin. Die Eigentumsrechte von Unternehmen würden stark eingeschränkt und das würden sich die Unternehmen nicht wortlos gefallen lassen.

Aber dagegen kann man argumentieren, dass die Einschränkung des Eigentumsrechtes nicht neu ist: In unserem Grundgesetz steht, dass Eigentum verpflichtet. Der Satz wird immer im Sinne der sozialen Gerechtigkeit verstanden. Aber er kann ebenso im Sinne der Nachhaltigkeit, also der Gerechtigkeit gegenüber der Natur und kommenden Generationen, verstanden werden. 

Weitere Infos

In seinem Buch „Die Rechte der Natur“ setzt sich Tilo Wesche ausführlich mit Fragen eines Rechtsstatus der Natur auseinander: Was ist dran an den Rechten der Natur? Kann diese Rechtspraxis zur Bewältigung des Klimawandels beitragen? Wie lassen sich solche Rechte begründen? Und wie anwenden? Ein philosophisches Grundlagenwerk mit Blick auf das Eigentumsrecht, das beim Klima-, Arten- und Umweltschutz häufig vernachlässigt wird.

Das Buch ist im September 2023 als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft erschienen.

Kinder in einem traditionellen Holzboot auf dem Orinoco in Venezuela.
Wem gehört der Fluß? Kinder in einem traditionellen Holzboot auf dem Orinoco in Venezuela.Foto: Photo Spirit/Shutterstock
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