
Läuft jetzt anders – Der Runway im Wandel
Zwei Events in Mailand und ein junger Mann aus Frankreich mischen alte, elitäre Strukturen traditioneller Fashionshows auf. Mit großem Publikum statt handverlesener Gäste, Public Viewing statt Einlasskontrolle und einer Front Row für alle.

Ei mal anders: Diesel schickt Mailand auf „Egg Hunt“
„Die sozialen Medien haben die Mode in Hunger Games verwandelt.“ Dieser Satz des Designers Glenn Martens erzeugte im Vorfeld des Schauen-Karussells für die Frühjahr/Sommer-Kollektionen 2026 eine gewisse Aufmerksamkeit, aber reichte nicht für einen medialen Trommelwirbel. Doch das, was der für Diesel und Maison tätige Belgier sich nun einfallen ließ, wurde zum weltweit beachteten medialen Spektakel: Zur Präsentation seiner Dieselkollektion für den kommenden Sommer gab es weder einen Catwalk, noch eine Front Row. Stattdessen durfte das Publikum in der Mailänder Innenstadt auf „Egg Hunt“, sprich Eiersuche gehen. In 55 transparenten eiförmigen Plexiglas-Gefäßen posierten Models auf Plätzen, Straßenkreuzungen, vor Bäckereien und Graffiti-Wänden. Jeder, der gerade (zufällig) an einem Ei vorbeikam, bekam so seine ganz persönliche Modenschau.

Instagrammability statt Stoff: Wie Social Media den Takt vorgibt
Die ungewöhnliche Aktion entstand aus Martens Überzeugung, dass sich die Fashion Weeks in den vergangenen Jahren immer mehr zu Mega-Spektakeln nur für Instagram und Tiktok entwickelt haben: „Im Jahr 2025 muss ein Kreativdirektor der König der sozialen Netzwerke sein. Mit einer Show muss man das Internet zum Explodieren bringen. Aber es gibt so viel mehr Dinge, die alle meine Kollegen und ich außerhalb der Modenschau leisten müssen. Die Schönheit der Mode liegt im Prozess. Das lässt sich nicht mit einer einzigen Modenschau erreichen“, bedauerte Martens gegenüber dem Branchendienst Business of Fashion. Mode sei zu konsumorientiert geworden, die Verbraucher klickten sich oberflächlich durch Bilder und suchten nicht mehr nach den Geschichten dahinter: der Konstruktion und Herkunft eines Kleidungsstücks. Ein Outfit müsse einfach nur gut ankommen, like-fähig sein. Das reiche den Konsumenten heutzutage.

Glenn Martens‘ Kritik ist eigentlich nicht neu, aber die meisten Designer machen dennoch weiterhin Business as usual. Zu sehr gäben die Sozialen Medien den Takt vor. Zu groß sei Druck, dort zu reüssieren.
Doch wie sind die Fashion Weeks in diesen Zustand gekommen? Hier lohnt sich ein kurzer Blick zurück in die Historie der Modewochen, die sich von sehr intimen Salon-Präsentationen zu Mega-Events entwickelt haben:
Vom Salon zum Mega-Event: 100 Jahre Fashion Week im Zeitraffer
Modenschauen gibt es schon Anfang des 20. Jahrhunderts, aber erst in den 1950er-Jahren beginnen die Haute-Couture-Häuser, ihre Kundinnen und einige wenige Journalisten in ihre Maisons einzuladen. Dort defilieren Modelle zwischen eng gesetzten Stuhlreihen. Das Publikum geht im wahrsten Sinne des Wortes auf Tuchfühlung mit den Kleidern.
Als 1967 Yves Saint Laurent die Prêt-à-Porter für Couturiers erfindet, ändert sich noch wenig an den Strukturen. Die Salon-Präsentationen, vor allem der Haute Couture, bleiben intim, der Fokus liegt auf der Mode. Im Zuschauerraum sitzen gute Kunden sowie zunehmend Presse und Brancheninsider.
In den 80ern werden Modenschauen größer und größer: Mit Topmodels wie Claudia Schiffer, Linda Evangelista, Christy Turlington und so weiter steigt das allgemeine Interesse für die Fashionweeks. Fans der Models warten vor den Ausgängen der Shows, um ein Foto zu erhaschen. Die Presse berichtet seitenweise über die Kollektionen. Die Räumlichkeiten der Salons reichen schon lange nicht mehr aus, um den Andrang von Kunden, Medien und Insidern gerecht zu werden.
Mit den 1990er-Jahren professionalisieren sich die Modeschauen und werden spektakulärer. Fotografen, die sich vorher neben dem Laufsteg zwischen die Gäste quetschten, haben nun ihre eigene Tribüne. Stardesigner wie Thierry Mugler inszenieren große Bühnen-Shows. Viele Defilees finden nun in Museen statt, andere in Garagen und verlassenen Metro-Stationen, wo eine Riege junger Designer aus London und Antwerpen neue Akzente setzt. Die Fashion Week wird zunehmend „cool“, aber noch bleibt die Branche unter sich. Mode-Interessierte sind auf die Berichte in Zeitungen, Magazinen und im Fernsehen angewiesen.
Dies ändert sich Anfang der Nullerjahre schlagartig. Das Internet und vor allem die Website Style.com von Condé Nast erlauben eine immer schnellere Berichterstattung. Die Branche beginnt Film- und Musikstars einzuladen. Sie ersetzen die in die Kritik gekommen Topmodels und liefern den nötigen Glamour. Eine weitere mediale Revolution kommt von den Bloggern. Diese jungen, modebegeisterten Menschen sind die ersten Externen, die neben den Stars und dem Fachpublikum zu den Schauen zugelassen werden. Sie haben einen frischen Blick und eine scharfe Zunge. Die Modekritik ist in dieser Zeit so lebendig wie nie.
Die 2010er: Längst bestimmen Stardesigner, wie John Galliano, Karl Lagerfeld, Alexander McQueen, Marc Jacobs und Miuccia Prada die Szene. Die Öffentlichkeit interessiert sich nicht nur für ihre Mode, sondern auch für den Menschen hinter dem großen Namen. Designer-Portraits nehmen in den Medien immer mehr Platz ein. Die Blogger teilen sich jetzt in zwei Gruppen auf: Diejenigen, die kritisch berichten und dann von den Schauen verbannt werden, und diejenigen, die alles tun, um sich ihren Platz in der Front Row weiter zu sichern.
Mit Instagram rückt die Modekritik mehr und mehr in den Hintergrund. Nur die Bilder zählen. Einige Blogger wenden sie der neuen Plattform zu, neue Instagram-Influencer betreten die Szene und bringen die Modenschauen einem jungen Publikum nahe.
Ab 2020: Die Influencer sind zu Megastars geworden, deren Auftritte Hunderte Fans bei der Modewoche begleiten. Die Follower, abgesperrt hinter Gittern, winken ihren Idolen gleich Königen zu. Polizei und Security-Personal kontrollieren die Massen. Die Fashion Weeks sind nun Großevents, die Menschen in zwei Kategorien teilen: die im Show-Zelt und die vor dem Show-Zelt. Die Mode rückt weiter in den Hintergrund. Was zählt, ist die „Instagrammability“ einer Show: Wie instagrammable ist die Front Row? Wie viele Stars sitzen dort? Wie viele Mega-Influencer? Welche Looks überzeugen im Bild? Likes werden zum A und O der Selektion. Selbst Models und die Designer müssen „liefern“. Die Medien als Trendanalysten werden kaum noch gebraucht. Jeder ist sein eigenes Medium.
Live-Streams übertragen heute das modische Spektakel in die ganze Welt. Viele Designer werten das als ersten Schritt zur Demokratisierung der Mode. Am Screen kann heute jeder dabei sein. Das stimmt, doch die Kluft zwischen denen im Zelt und denen am Bildschirm bleibt. Im Gegenteil: Niemals zuvor war die Modewoche so selektiv und elitär wie heute.
Und nun?
Nun stellt Glenn Martens seine Models mitten in die Fußgängerzone und vor die Kirchenportale von Mailand. „Wir haben beschlossen, die Stadt in die erste Reihe zu setzen. Anstatt eine Modenschau mit geladenen Gästen zu organisieren, konnten alle gleichzeitig die Kollektion sehen”, erklärte Glenn Martens stolz.

Demna Gvasalia bei Gucci: Insta-Spoiler und ein Film
Auch Demna Gvasalia, einer der größten Stars unter den aktuellen Designern, bricht mit herkömmlichen Fashionweek-Regeln. Sein viel beachteter Wechsel als Kreativdirektor von Balenciaga zu Gucci hat in der Szene hohe Erwartungen aufgebaut: Was wird der gebürtige Georgier mit deutschem Pass wohl in seiner allerersten Show zeigen? Die Antwort ist: einen Film. Die dazugehörige Mode hatte Gvasalia bereits vorab auf dem Instagram-Account von Gucci gespoilert. Modisch gesehen gab es bei seiner Schau in Mailand also nichts mehr zu enthüllen. Auch wurde der Kurzfilm „Tiger“, hochkarätig besetzt mit Demi Moore als Barbara Gucci und anderen Hollywoodgrößen, parallel auf der Website gestreamt. Die illustren Gäste vor Ort, streng von der Öffentlichkeit abgeriegelt, bekamen also nicht mehr zu sehen als Mia Mustermann am eigenen Device.


Kommen wir zum letzten Mitglied der aktuellen Fashionweek-Revoluzzer: Elias Medini, besser bekannt unter seinem Pseudonym Lyas. Der Franzose gehört zu einer neuen Generation Modekritikern, die Social Media zwar wie Influencer zur Selbstpromotion nutzen, aber echten Content jenseits der einfachen Darstellung von Outfits produzieren. Diese Neo-Fashion-Critics führen auf Instagram und Tiktok das fort, was die Blogger Anfang der 2000er-Jahre versuchten: eine individuelle und wahre Modekritik zu re-etablieren.

Wie damals kommen manche Urteile bei gewissen Marken nicht gut an. So wurde Lyas in diesem Sommer bei der Haute Couture von Dior ausgeladen. Seinen verletzten Stolz trug er zusammen mit Freunden in eine Bar, wo er sich in den Livestream zur Modenschau einwählte. „La Watch Party“ war geboren, ein Public Viewing ähnlich der Fußballübertragungen, nur dass am Bildschirm keine Männer auf einen Ball kicken, sondern Models über den Laufsteg flanieren. Zur aktuellen Fashionweek-Saison gab es bereits Watch Parties in London und Mailand. In Paris schlägt Lyas seine Zelte zum heutigen Start der Pariser Prêt-à-Porter-Woche auf.
Luxus im Wandel: Warum die Fashion Weeks neu gedacht werden müssen
Die Modewoche von ihrem Podest zu holen ist nicht einfach. Aber diese ersten kleinen Ausreißer aus dem etablierten System zeigen, dass riesige Defilee-Spektakel einen Teil ihres Glamours eingebüßt haben. Der Luxus steckt in der Krise und strauchelt auch deshalb, weil die Manager dahinter es übertrieben haben: zu teuer, zu abgehoben, zu sehr auf eine Gruppe von Superreichen konzentriert und zu wenig den Zeitgeist und sein multiple Krisen brücksichtigend. Wer die begehrte GenZ umwerben will, wird mit Formeln, die auf die konsumverliebten Millenials ausgerichtet sind, wenig erreichen. Es ist an der Zeit, umzudenken. Und auch aktuelle Fashion-Week-Formate auf den Prüfstand zu schicken.

Weitere Infos:
Geht es bei der Fashion Week noch um die Mode? Diese Frage hat sich Barbara Markert im Laufe ihrer langen Karriere als Frankreich-Korrespondentin schon mehrmals gestellt, auch in einem Artikel für Substantial Times.