Geht es bei der Fashion Week noch um die Mode?
Was für eine Frage! Klar geht es bei den Fashion Weeks um die Mode. Um was denn sonst? Allein in Paris standen diesmal sage und schreibe 101 Modenschauen auf dem offiziellen Schauenkalender. Dazu kommt ungefähr die gleiche Anzahl an Off-Shows, also Präsentationen und kleinen Defilees, die nicht die Weihen der französischen Modekammer erhalten haben und jenseits des offiziellen Programms laufen. In Mailand, London und New York ist das Verhältnis ähnlich. Alle vier Schauenstandorte zusammengenommen ergeben geschätzt 700 bis 800 Defilees, Präsentationen und Showroom-Termine. Am Mode-Angebot fehlt es also sicherlich nicht. Warum also diese Frage? Sie ist insofern berechtigt, weil sich Modewochen beständig weiterentwickeln. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Und oft ist es nicht einmal mehr so wie in der Saison davor.
Von der Präsentation zum Top-Event
Blicken wir kurz zurück: Die Modewochen nahmen ihren Ursprung in den frühen 1970er-Jahren, ganz konkret 1973 mit Inkrafttreten der ersten „Semaine de la Mode“ in Paris. In Mailand wurden die offiziellen Schauen zwei Jahre später aufgenommen. Defilees gab es jedoch schon lange vorher. Aber sie fanden nicht in einem übergeordneten Rahmen und auch nicht zu einem bestimmten festgesetzten Zeitpunkt statt. Mit der Institutionalisierung begann die Professionalisierung der Fashion-Shows: Neue Berufe rund um die Schauen entstanden, die Modepräsentationen nahmen immer größere und spektakulärere Ausmaße an. Und heute?
Heute sind Modewochen echte Top-Events, die Tausende von Menschen anziehen, die Massenaufläufe auf den Straßen erzeugen und die digital in die ganze Welt übertragen werden. Waren die Schauen früher einem ausgewählten Branchenpublikum vorbehalten, haben sich die Fashion Weeks heute demokratisiert. Jeder, der Interesse hat, kann teilnehmen – zu Hause an seinem Computer, unterwegs auf seinem Smartphone oder eben als Zaungast live vor Ort. Die ganze Welt weiß, was gerade in New York, London, Mailand und vor allem in der Mode-Hauptstadt Paris über den Catwalk läuft, wer eingeladen wird und wer in der Front Row sitzen darf. Mit der fortschreitenden Mediatisierung der Modewochen steigt die globale Aufmerksamkeit und damit auch das Interesse der Marken, sich jede Saison im besten Licht zu präsentieren. Doch sich alle sechs Monate neu zu erfinden oder sich selbst zu übertreffen ist nicht einfach.
Hauptsache spektakulär
Die Dekorationen rund um den Catwalk werden deshalb immer außergewöhnlicher. Statt Musik „vom Band“ spielen heute Live-Bands oder ganze Orchester. Viele Marken, wie Dior und Louis Vuitton, arbeiten seit mehreren Saisons für die Innenausstattung mit bekannten Künstlern zusammen. Andere suchen sich besondere Orte aus, so wie das Modehaus Valentino, das letzten Sommer im Garten des Versailler Schlosses zeigte. Oder aktuell das französische Label Coperni, das seine Gäste bis ins 30 Kilometer entfernte Disneyland kutschierte, wo Mickey und Goofy persönlich die Besucher begrüßten und während der Schau über dem berühmten Dornröschenschloss ein echtes Feuerwerk hochging. Da waren sogar die eingeladenen Mega-Influencer beeindruckt, wie zum Beispiel Léna Mahfouf, die mit ihren Social-Media-Kanälen, Youtube und Podcasts über zehn Millionen Menschen erreicht.
Nichts läuft mehr ohne Influencer
Influencer mit einer Follower-Schaft von über einer Million gehören inzwischen zur Grundausstattung einer Modenschau, die sich als Event versteht. Ein paar K-Pop-Musiker sorgen für die kreischenden Zaungäste rund um die Location-Eingänge, Hollywoodstars und Ikonen der Musikszene bringen den nötigen Glamour und garantieren das Interesse der „alten Medien“ (Print-Magazine, Tageszeitungen, TV-Sender), die inzwischen zähneknirschend auf den hinteren Rängen Platz genommen haben, sich aber freuen, wenn sie auf der Modewoche ein paar Promizitate abgreifen können. Der Gästemix aus Online- und Offline-Stars funktioniert seit vielen Jahren bestens. Doch wie so alles im Leben braucht selbst dieses Erfolgsrezept immer mal wieder einen neuen Dreh.
In der gerade abgelaufenen Saison lautete dieser: noch mehr Hollywoodstars und zwar am besten auf dem Catwalk. So bestellt, so geliefert! Die Fashion Week konnte es in dieser Saison in Bezug auf die Celebrity-Dichte mit der Oscar-Verleihung aufnehmen: Die Schauspieler Willem Dafoe und Hilary Swank liefen für Miu Miu über den Laufsteg, Realitystar Kylie Jenner präsentierte einen Look von Coperni, TV-Moderatorin und Stilikone Alexa Chung lief bei Tory Burch, und Nepo-Babies (Kinder von Stars) wie Romeo Beckham, Sunday Rose Kidman-Urban und Lila Grace Moss-Hack absolvierten ihre Catwalk-Premieren. Auf den Social-Media-Kanälen liefen die Smartphones heiß, die neue Riege der Instagram-Content-Influencer wie Ideservecouture oder Stylenotcom kamen in der Berichterstattung kaum noch hinterher, in den Kommentar-Spalten regnete es rote Herzen.
Lenkt dieses ganze Spektakel nicht vom eigentlichen Zweck der Modepräsentation ab? Wenn als Reaktion auf das offizielle Instagram-Video zur Balenciaga-Schau in den Kommentaren nur noch von der brasilianischen Musikerin Ludmila Oliveira da Silva die Rede ist, die als Gast eingeladen war, aber im Video gar nicht zu sehen ist, dann kann man durchaus annehmen, dass hier etwas schiefläuft. Dabei hätte die Kollektion aus Trompe-l’oeil-Dessous-Kleidern und Outfits, die aussehen, als kämen sie direkt aus dem Secondhand-Kiloshop, genügend Stoff zur Diskussion gegeben.
Schluss mit dem Zirkus
Hier kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Geht es auf den Modewochen noch um die Mode? Naja, nicht ausschließlich. Der Eventcharakter der Defilees ist so wichtig geworden, dass die Mode in den Hintergrund gedrängt wird. Genau aus diesem Grund scheren immer mehr Designer aus dem Wettbewerb des „Immer-größer-immer-toller“ aus. The Row verbietet seit zwei Saisons die Nutzung von Smartphones während der Modenschau und verteilt Blöcke für Notizen, so wie es in den 1980ern und 1990ern üblich war. Celine hat sich komplett vom Fashion-Week-Zirkus verabschiedet und präsentiert seine Kollektion seit 2023 in Form von Videos.
Barbara Bui, Dawei Sun oder auch die Deutsche Marie-Christine Statz mit ihrem Label Gauchere sind zwar Teil des offiziellen Paris-Kalenders, haben aber Showroom-Termine einer Catwalk-Show vorgezogen. Die meisten begründen den Schritt damit, dass man den direkten Kontakt zu den Kunden, Einkäufern oder der Presse verloren hätte, dass man sich direktes Feedback und einfach mehr persönliche Nähe zurückwünsche. Der Vollständigkeit halber ist natürlich anzumerken, dass alle diese genannten Marken sich teure Influencer in der Front-Row oder extra eingeflogene und mit den neuesten Kreationen eingekleidete Hollywoodstars gar nicht leisten können.
Auch eine Frage der Mittel
Teilt sich die Mode bei der Fashion Week also in zwei Teile, in die Gruppe der großen Luxuskonzerne mit Budgets für spektakuläre Shows mit hohem medialen Output, und in die andere Gruppe der Independent-Labels, die nur mit ihrer Kollektion aufwarten können und dadurch kaum Beachtung finden? Leider scheint dies die traurige Wahrheit zu sein. Das Fashion-Week-Analyse-Tool Tagwalk nennt nach Auswertung des Online-Traffics in seinem Bericht unter der Rubrik „Paris Designer Top 3 Ranking“ auf Platz eins Miu Miu, gefolgt von Chloé und Saint-Laurent. Alle drei Modehäuser hatten ein beachtliches Aufgebot an Stars zu bieten, Miu Miu punktete mit den meisten Celebrities auf dem Catwalk.
Glamour schlägt Branchen-News
Frühere Trendthemen, die noch vor wenigen Saisons eine bedeutende Rolle spielten, wie Inklusivität, politische Stellungnahme oder Nachhaltigkeit in der Präsentation und Kollektion, waren bei dieser abgelaufenen Fashion Week nicht mehr entscheidend. Der Glamour des diesjährigen Promi-Auflaufs überstrahlte sogar wichtige Branchen-News, etwa dass Chanel und die Wertheimer-Erben Anteile am Label der Olsen-Sisters, The Row, erworben haben, oder dass LVMH seine Beteiligung bei Moncler ausgebaut hat.
Es gab auch keinerlei Aufschrei in der Branche, als mitten in der Fashion Week LVMH verkündete, die Marke Off-White des 2021 verstorbenen Kultdesigners Virgil Abloh an die amerikanische Bluestar Alliance zu veräußern. Dabei bedeutet dieser Verkauf den Abstieg einer Luxusmarke zurück in das Segment der Street- und Urban Wear, in dem Off-White einst gegründet wurde und aus dem sich die Marke dank des kreativen Genies seines Designers etablieren konnte.
Kommunikations-Timing
Eigentlich hätten Virgil-Abloh-Fans hier empört reagieren müssen. Passiert ist aber nichts. Die Nachricht ging unter, so wie die anderen. War das von den Luxuskonzernen beabsichtigt? Kann sein. LVMH wartete auf alle Fälle bis zum Ende der Fashion Week mit der Pressemitteilung, dass Designer Hedi Slimane nach sieben erfolgreichen Jahren und einer – fast – Verdreifachung des Umsatzes das Haus Celine verlässt, und präsentierte bereits einen Tag später den Nachfolger Michael Rider. Diesmal schlug die Nachricht Wellen. Auch weil die Fashion Week vorbei war und Nicole Kidman, Natalie Portman, Kate Moss, Gwyneth Paltrow und Konsorten wieder nach Hause abgereist waren.
Heute kam übrigens die Meldung rein, dass Y Project zum Verkauf stehe. Wer? Ein Label, das die Mode ziemlich durcheinanderwirbelte, neue Looks hervorgebracht hat und dessen scheidender Designer, Glenn Martens, als einer der kreativsten Köpfe der Branche gilt. Er verließ das Label übrigens am ersten Tag der diesjährigen New Yorker Fashion Week. Hat das einer mitbekommen? Nein? Nicht schlimm, denn hier geht es nur und wirklich nur um die Mode.