„Echte Vintage-Mode wird ein ganz wichtiges Segment“
Ausstellungen über bedeutende Epochen der Stil- und Modegeschichte sind derzeit sehr beliebt. Im Pariser Palais Galliera erfreute sich in diesem Jahr die Exposition „1997 Fashion Big Bang“ eines großen Interesses. In der Bundeskunsthalle in Bonn wurden die 1920er-Jahre in all ihren Facetten analysiert. Und das Londoner Victoria and Albert Museum (V&A) zeigt aktuell bis zum 25. Februar 2024 mit „Gabrielle Chanel. Fashion Manifesto“ die erste Chanel-Retrospektive überhaupt auf der britischen Insel.
Auf den Laufstegen flanieren gerade Looks der Nullerjahre, genannt Y2K, bei Dior schaut man ab der Winterkollektion 2023/24 zurück in die Fifties, und die Herbst-/Winterkollektion von Saint Laurent ließ die Powerfrau der 1990er-Jahre wiederauferstehen. Retro ist „in“. Aber weshalb? Sind wir alle sentimental geworden? Fällt der Mode nichts Neues mehr ein? Liegt es an den multiplen Krisen, dass wir immer wieder die guten alten Zeiten heraufbeschwören? Dies und mehr fragten wir den renommierten Pariser Modehistoriker Olivier Saillard.
Saillard, Jahrgang 1967, kennt sich mit alten Kleidern bestens aus. Der Sohn zweier Taxifahrer-Eltern, Spross einer Großfamilie mit sechs Kindern aus der ländlichen Region Franche-Comté, arbeitete ein Vierteljahrhundert lang in Modemuseen – erst in Marseille, dann in Paris. Vor allem seine Tätigkeit als Direktor des Pariser Museums Galliera verschaffte ihm den Ruf eines ausgewiesenen Experten und unkonventionellen Visionärs. Heute arbeitet Saillard als künstlerischer Berater aller Florentiner Messen inklusive der Männermodemesse Pitti Uomo, schreibt Bücher über Mode, hat eine eigene kleine Haute-Couture-Kollektion, bei der er „alte Kleider“ mit raffinierten Drapierungen upcycelt, und ist als Kreativdirektor für die modische Neuausrichtung der französischen Traditions-Schuhmarke J.M. Weston zuständig. Als ob das noch nicht genug wäre, verwaltet er zusätzlich das reiche Erbe und die umfangreiche Vintagemode-Sammlung des verstorbenen Stardesigners Azzedine Alaïa, eines engen Freundes von ihm.
Insgesamt 140 Ausstellungen und zahlreiche Performances zur Mode haben seine Faszination für Kleider aus früheren Zeiten weiter befeuert. Auch persönlich: Zum Jeanshemd, seinem Erkennungszeichen, trägt er Vintage-Krawatten aus den 1960er-Jahren, die er auf Flohmärkten findet. Seine Lieblingsschuhe sind ein Modell aus dem Jahr 1936 von J.M. Weston, das seit fast einem Jahrhundert bis ins kleinste Detail unverändert hergestellt wird.
Herr Saillard, wir reden immer über die Revivals bei der Frauenmode, aber auch in der Herrenmode passiert nicht wirklich viel Neues.
Olivier Saillard: Ja, wir leben heute bei der Herrenmode mehr oder minder mit dem modischen Erbe des 19. Jahrhunderts. Damals waren die Männer komplett in Schwarz oder Grau angezogen, mit dem Ziel, den Blick auf die Frauen in ihren bunten Krinolinen und Reifröcken zu lenken. Die Damen wiederum dienten dazu, mit ihrer in Korsetts gefangenen Schönheit ihre Gatten aufzuwerten. Diese Art der Rollenverteilung hielt sich bis in die 1960er-Jahre. Männer sollten Seriosität ausstrahlen, deshalb war es für sie lange Zeit sehr schwierig, Farbe zu tragen. Taten sie es, wurden sie als Künstler, Spinner oder noch Schlimmeres abgestempelt. Es hat sehr lang gedauert, bis sich das System der männlichen Mode aufgeweicht hat.
Warum?
Männer haben ein anderes Verhältnis zu ihren Kleidern als Frauen. Sie besitzen weniger und alles muss bei ihnen praktisch wie auch kombinierbar sein. Ist das der Fall, wird ein Kleidungsstück meist länger genutzt. Ich trage zum Beispiel Anzüge, die mehr als zehn Jahre alt sind. Außerdem sind Männer enger mit ihren Sachen verbunden als Frauen.
Wie meinen Sie das?
Ich will es Ihnen an einem Beispiel erklären: Ich war einmal bei der damals schon sehr betagten Madame Carven, der Gründerin des berühmten Pariser Modehauses, zum Essen eingeladen. Am Tisch saß mit mir ein alter Dandy aus der Londoner Savile Row. Er trug einen sehr schönen Anzug und war darauf sehr stolz. So sehr, dass im Anzug ein Papier steckte, auf dem er notierte, wann der Anzug gereinigt wurde. Die Mottenlöcher, von denen das gute Stück einige hatte, waren umstickt und mit dem Datum ihrer Entstehung versehen. Es war ein Kunstwerk!
Das Beispiel mag extrem sein, aber es sagt viel darüber aus, wie Männer Mode tragen. Selbst ich besitze noch immer meinen ersten Jeansblouson und halte ihn in Ehren. Deshalb ist es für Männer auch kein Drama, einen Anzug aus den 80ern zu tragen. Naja, ich gebe zu, dass die Schultern heute etwas anders geschnitten sind. Aber das kommt ja nun wieder.
Hat das zur Folge, dass es bei der Männermode weniger Stilwechsel und damit auch weniger Retromode gibt?
Es gibt weniger Brüche, sondern es entwickelt sich stetig weiter. Denken wir an die engen Slim-Fit-Anzüge, die Hedi Slimane Anfang der Nullerjahre für Dior gezeigt hat. Es hat drei bis fünf Jahre gedauert, bis sich die Männer auf diesen Look eingestellt hatten. Und jetzt wird es dauern, bis wir uns dieses Trends wieder entledigen. Zwar schwelgt die Jugend aktuell im Baggy-Style, aber die breite Masse trägt noch immer enge Hosen.
Frauen sind da flexibler. Aber gerade hier gibt es ständig neue Stil-Revivals.
In der Frauenmode gibt es auch mehr Kollektionen, die gefüllt werden müssen: Cruise, Pre-Fall und so weiter. Jeder Trend wird sofort ausgeschlachtet, und heute gibt es Trends en masse. Fraglich ist, ob das noch zeitgemäß ist. Die Mode ist eine der Branchen, die am meisten die Umwelt verschmutzen, aber wir produzieren immer weiter und noch mehr. Dabei verkaufen sich heute Kleider fast nur noch in den Sales-Perioden mit 70 Prozent Reduzierung. Auf den Laufstegen sehen wir reproduzierte Vintage-Mode, die genauso wie echtes Vintage, also aus den Originaljahren des aktuellen Revivals, aussieht. Diese Looks könnten wir uns auch alle im Secondhandladen kaufen. Nicht zu vergessen die Präsentationen der Cruise-Kollektionen: Da werden die Kundinnen und Journalisten mit Privatjets eingeflogen und in Luxushotels verfrachtet, um dann elf Minuten lang einem Defilee zuzusehen. Das ist doch eine Schande. Wir sollten das System überdenken und ausbremsen. Manche haben es verstanden und arbeiten anders.
Wer zum Beispiel?
Nehmen wir das Beispiel Azzedine Alaïa (Anm. d. Red. ca. 1935 – 2017) Er machte weniger und Kleider, die länger andauern. Einen Mantel von Alaïa, den behält eine Frau ihr ganzes Leben lang. Ich dachte früher immer, dass Mode eine Kunst ist. Aber Kunst wirft man nie weg, Mode schon. Wenn es eine Kooperation zwischen einem Künstler und einer Marke gibt, ist meist klar, um was es wirklich geht. Es geht um Umsatz. Designer sind keine Künstler, sie sind eher Autoren. Nehmen wir Nicolas Ghesquière, er hat seinen Stil und ist wiedererkennbar. Er ist ein Autor. Lacroix, Yamamoto, Rei Kawakubo mit Comme des Garçons – das sind für mich alles Autoren. Die anderen? Nein. Viele Designer streben nur nach dem Erfolg und weniger nach der fundamentalen Recherche in der Mode. Auch die aktuelle Handelsstruktur ist krank.
„Anfang der 80er-Jahre gab es von Chanel nur eine einzige Boutique auf der Welt. Die in der Rue Cambon.”
Gibt es zu viele Modeläden?
Ja. Anfang der 1980er-Jahre gab es von Chanel nur eine einzige Boutique auf der Welt. Die in der Rue Cambon. Basta. Plus ein paar Corners in bekannten Kaufhäusern. Heute gibt es auf der Welt mehr als 1.000 Boutiquen. Bei Dior und allen anderen Luxushäusern ist es genau dasselbe. Wir sprechen auch gar nicht mehr von Boutiquen, sondern von ganzen Häusern mit mehreren Stockwerken. In allen großen Städten. Und die müssen gefüllt werden mit Produkten und Leuten, die kaufen. Die Marken haben sich in einen Teufelskreis begeben, aus dem sie kaum noch herauskommen. Wer würde schon zugeben wollen, dass er eine Boutique schließen muss? Keiner. Alles ist überall erhältlich – in den Flagship-Stores und im Internet. Das ganze System muss irgendwann in sich zusammenbrechen, aber bis dahin macht die Mode weiter wie bisher und glänzt mit immer neuen Milliardenumsätzen.
Sehen Sie denn überhaupt Auswege?
Echte Vintage-Mode ist dabei, ein ganz wichtiges Segment für die Konsumentinnen und Konsumenten zu werden. Es gibt viele Upcycling-Ideen. Und Unternehmen wie zum Beispiel J.M. Weston, die ihre Produkte reparieren, und zwar exakt in der gleichen Manufaktur, wo sie hergestellt wurden. Alles wird noch in Frankreich hergestellt. Das begrenzt die Produktionsmenge. Bereits der Gründer der Marke, Eugène Blanchard, sagte in den 1930er-Jahren, dass zu viel und zu schlecht produziert würde. Er hat damals schon die Produktion von 200 Paaren auf 80 pro Woche begrenzt. Das war eine schlaue Entscheidung. Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert. Man wirft J.M. Weston sogar vor, zu wenige neue Modelle auf den Markt zu bringen.
Aber das ist egal: Denn diejenigen, die die Marke kennen, sind ihr treu, und die anderen finden nicht wirklich den Weg zu ihr. Ökonomisch gesehen ist diese Haltung nicht einfach. Aber die Symbolik dieser Kultur ist interessant, und es anders als andere zu machen, sehr mutig.