Foto: Mark Niedermann/©Yayoi Kusama
Nichts hat ein Ende. Punkt.
Punkte, soweit das Auge reicht. Punkte in unterschiedlichen Größen, Riesenschlangen, die dreidimensional den scheinbar endlosen Raum einnehmen. So kennt man das Werk der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama, eine der einflussreichsten Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts.
Bis Januar zeigt die Fondation Beyeler bei Basel die erste umfassende Retrospektive des Werks von Yayoi Kusama in der Schweiz. Die Ausstellung, die in enger Zusammenarbeit mit Kusama und ihrem Atelier entstand, versammelt über 300 Werke aus internationalen Sammlungen.

Von der Angst zur Ordnung
Über sieben Jahrzehnte schon arbeitet Kusama, geboren 1929, an ihren farbenfrohen Bildwelten, die die Grenzen zwischen Kunst, Popkultur und Kommerz sprengen. Sie nennt ihre Arbeiten selbst „psychosomatische Kunst“, die für sie eine selbsttherapeutische Wirkung haben. So versucht sie die Angstzustände, die sie seit ihrer Kindheit plagen, in ihrem Werk bewusst zu verarbeiten.
1957 verlässt Yayoi Kusama ihre Heimatstadt Matsumoto in Japan, um den engen Grenzen sowohl der Familie als auch der traditionellen japanischen Gesellschaft zu entfliehen. Ihr Weg führt sie ins pulsierende New York der 60er-Jahre. Zu Ihrem Umzug an den Hudson sagt sie: „Als ich Georgia O’Keeffes Bild betrachtete, kam ich auf die Idee, dass sie mir vielleicht in diesem Land helfen könnte. Sie war die einzige amerikanische Künstlerin, die ich kannte. Und alles, was ich von ihr wusste, war, dass sie die berühmteste Künstlerin der Vereinigten Staaten war. Ich beschloss, ihr einen Brief zu schreiben. (…)“ – O’Keeffe antwortete ihr und machte ihr Mut, nach Amerika zu gehen.
Durch den Kontakt zu Georgia O’Keeffe (1897–1986) lernt sie schnell die Avantgarde um Andy Warhol und Claes Oldenburg kennen und wird zu einer prägenden Figur der entstehenden Pop Art.

New York in den 1960ern – der Durchbruch der Wiederholung
Mit ihrer psychosomatischen Kunst traf Kusama den Zeitgeist der Sixties und prägte mit ihrem breiten Spektrum an Medien – Malerei, Zeichnung, Skulptur, Installation, Performance, Collage, Mode, Literatur und Film – die avantgardistische Szene. Trotz mehrerer psychischer Krisen arbeitete sie kontinuierlich weiter. So stellte sie in New York neben Warhol und Oldenburg aus und wurde überschwänglich besprochen. In ihren Infinity Net Bildern reduziert sie das Malerische auf ein Minimum. Durch die ewige Wiederholung der gleichen Muster bis ins Unendliche erreicht sie eine Kontemplation, die der Zen-Philosophie naheliegt.

Netze, Körper, Spiegel – die Auflösung des Ichs
Sie sagt über ihre Infinity Net Bilder: „Durch das Akkumulieren der Netzmaschen, die durch die einzelnen weißen Punkte als Negativ entstanden, wollte ich von der eigenen Position aus die Unendlichkeit des Universums vorhersagen und ermessen. Wie tief reicht das Mysterium der Unendlichkeit, und ist die Unendlichkeit jenseits des Universums auch unendlich?”
Und weiter: „Indem ich diesen Fragen nachging, versuchte ich mein Leben als einzelnen Punkt zu sehen. Mein Leben als Punkt, als ein Punkt unter Millionen von Teilchen. In einem Manifest erklärte ich, dass alles – ich selbst, die anderen und das gesamte Universum – durch die astronomische Akkumulierung von weißen, aus Punkten geknüpften Netzen aus Nichts ausgelöscht werde. Die weißen Netze umschlossen die schwarzen Punkte des lautlosen Todes vor dem finsteren Hintergrund aus Nichts, und als die Leinwand auf zehn Meter anwuchs, war sie nicht mehr bloße Leinwand, sondern füllte den ganzen Raum und wurde zur Gesamterzählung all dessen, was ich war. Und der Bann aus Punkten und Maschen hüllte mich in einen magischen Schleier von unsichtbarer geheimnisvoller Macht.“
Rückkehr nach Tokio
Seelisch erschöpft kehrte sie 1977 nach Tokio zurück und lieferte sich selbst in eine psychiatrische Klinik ein, in der sie bis heute lebt. In einem Atelier außerhalb des Klinikums arbeitet Kusama weiter. Es wurde etwas ruhiger um sie, bis sie 1993 auf der 45. Biennale von Venedig wiederentdeckt wurde.

In ihrer 2002 erschienen Autobiographie Infinity Net schildert sie, wie sie besessen kleine Punkte und Kringel auf riesige Leinwände, das ganze Atelier, Möbel, Wände, Böden und auf den eigenen Körper malte und so alles zu einer einzigen großen Leinwand wurde: „Wenn ich meinen gesamten Körper mit Punkten bemale und auch den Hintergrund mit Punkten versehe, ist das ein Akt der Selbstauslöschung,“ beschreibt die Künstlerin ihre Motivation.
Zwischen Wahn und Methode
Über ihren Malvorgang sagt sie: „Tatsächlich litt ich häufig unter neurotischen Zuständen. Ich stand vor der Leinwand und malte meine Netze, ich malte auf dem Tisch und auf den Boden, und schließlich bedeckte ich meinen Körper damit. Immer und immer weiter malte ich diese Netze, bis sie sich ins Unendliche ausbreiteten. Ich vergaß mich selbst, war von Netzen umschlossen – meine Arme und Beine, alles, was ich trug, alles im Raum war bedeckt mit Netzen.“

Das immersive Moment
Das Erleben der Welt von Yayoi Kusama versetzt Betrachterinnen und Betrachter in einen Zustand des Schwebens. Die raumgroßen Installationen lassen die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Körper und Raum, zwischen Individuum und Kosmos verschwinden. Die Werke, die auf der Fläche der Fondation Beyeler zu sehen sind, verwandeln nicht nur die Räume und die Architektur des Museums, sondern beziehen auch den angrenzenden Park mit ein. Die Infinity Mirror Rooms und skulpturalen Arbeiten überschreiten die Grenzen der Ausstellungsräume und bieten ein faszinierendes Zusammenspiel von Licht, Farbe und Form.
Yayoi Kusamas Kunst lädt ein, sich auf das Unendliche in sich selbst zu besinnen.

Weitere Infos
Die Ausstellung Yayoi Kusama läuft bis zum 25. Januar 2026 in der
Fondation Beyeler, Baselstrasse 77, 4125 Riehen (Schweiz).
Lesen Sie dazu auch unseren Text „Nicht auffällig genug” über die Sichtbarkeit von Frauen in der Kunst.