Sonntag, 9. Februar 2025
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Magazin für modernes Leben
Das Bild zeigt ein Mädchen vor einem Schaufenster mit einem Smartphone in der Hand. Zoran Zonde Stojanovski/Unsplash
Digital Detox und Net-Fatique

Abschalten, aber wie?

Noch nie war die Bildschirmzeit höher als heute. Doch der Weg zurück ist schwer. Digital Detox und Net-Fatique beschäftigen die Psychologie. Ein neuer Vorschlag: Phone Free Friday. Wie wär’s?
Zoran Zonde Stojanovski/Unsplash

„Es ist normal geworden, sich überfordert zu fühlen“, sagt Trine Syvertsen, Professorin für Medien und Kommunikation an der Universität Oslo und Autorin des Fachbuchs „Digital Detox. The Politics of Disconnecting“ (Die Politik des Abschaltens), eines der Standardwerke zum aktuellen Medienkonsum. Was wir gerade erleben, sei nichts Neues, meint die Wissenschaftlerin: „Auch der Telegraf Ende des 18.Jahrhunderts, oder das Fernsehen Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Menschen anfangs überwältigt. Doch der große Unterschied zur aktuellen Lage ist, dass wir heute fast immer vernetzt und die Überforderung dauerhaft ist.“

Angehörige der Generation Z haben ihr Smartphone immer dabei. Sie bekommen oft nicht mit, was um sie herum passiert.
Foto: Barbara Markert

7,1 Milliarden Handynutzer

86 Prozent der Weltbevölkerung besitzen laut der Onlineplattform Statista aktuell ein Smartphone. Bis Ende dieses Jahres werden 7,1 Milliarden Menschen ein Handy nutzen. Gemäß einer Untersuchung des Forschungsinstituts Kantar aus dem Jahr 2022 verbringen wir zwischen vier bis sieben Stunden pro Tag an unseren Smartphones, der globale Durchschnitt variiert je nach Erhebung zwischen drei und fünf Stunden.

Diese Zahlen beweisen, dass die digitale Technik einen immer größeren Teil unseres Lebens bestimmt – und dabei Stress erzeugt. „Fast zwei Drittel der Bevölkerung haben den Eindruck, zu viel online zu sein. Digital Detox oder Disconnect sind eine Reaktion darauf“, so Trine Syvertsen, die anhand eines Langzeitprojekts namens Digitox klären will, wie Individuen und Gesellschaft mit den zunehmend invasiven Medientechnologien umgehen.

Angehörige der Generation Z haben ihr Smartphone immer dabei. Sie bekommen oft nicht mit, was um sie herum passiert.
Foto: Barbara Markert

Abschalten per App?

Die Benefits einer verringerten Smartphone-Nutzung sind weithin bekannt: bessere mentale und physische Gesundheit, ein höheres Sozialverhalten, mehr Konzentration, Produktivität, besserer Schlaf, weniger Angstzustände und so weiter. Nur, wer schafft es wirklich, seine Hände vom Handy zu lassen? Die norwegische Forscherin hat zwei Gruppen von Personen auf dem Weg zum Offline-Leben ausgemacht: „Eine Gruppe ist gar nicht daran interessiert, sich von digitalen Medien zu trennen, versucht aber, die eigene Onlinezeit zu kontrollieren.“ Für diese Personen gibt es bereits zahlreiche Hilfen, die in den meisten Smartphones serienmäßig integriert sind, wie Zeitlimits für Social-Media-Kanäle oder eine generelle Auszeit nachts. Dazu kommen spezielle Apps zum Herunterladen, wie Jomo, One Sec, Refocus oder Better Spend, die den digitalen Detox ausgerechnet digital unterstützen wollen.

Vielleicht ein „dummes Phone“?

Eine andere Möglichkeit ist die Anschaffung eines „Dumbphones“, mit dem man nur telefonieren und texten kann. Das Modell „MP02“ des Schweizer Anbieters Punkt zum Beispiel bietet weiterführende Services nur über ein zweites Gerät an. Hat man dieses nicht dabei, ist die Kommunikation auf ganz normale Anrufe reduziert.

Trine Syvertsen‘s zweite Gruppe mit „Net-Fatigue“ sind „Menschen, die davon sprechen, eine Woche, einen Monat oder ein Jahr lang offline zu gehen. Sie löschen soziale Medien wie Facebook oder schränken ihren Internetzugang drastisch ein.“ Hier ist die kritische Selbstreflexion bereits vollzogen, diese Gruppe sucht aktiv nach Lösungen.

Angehörige der Generation Z haben ihr Smartphone immer dabei. Sie bekommen oft nicht mit, was um sie herum passiert.
Foto: Catwalkpictures

Digitale Abhängigkeit

Aber es gibt noch eine dritte Gruppe, die Syvertsen nicht untersucht hat, die aber nicht unerwähnt bleiben darf: Menschen, die bereits in eine Abhängigkeit von digitalen Medien geraten sind. An diese wendet sich auch der „Offline-Influencer“ Oli Fauzi aus Australien, der seinen rund 240.000 Followern auf seinem Instagram-Account zeigt, wie ein Leben mit und ohne Handy aussehen kann. Sein Motto lautet: „Lasst sie nicht gewinnen. Wege, um dein Handy besser zu kontrollieren.“

Insbesondere Jugendliche, so die allgemeine Meinung, seien gefährdet. Eine „spielbasierte Kindheit“ werde zunehmend durch die „telefonbasierte Kindheit“ ersetzt. Die Folgen: Laut Untersuchungen hast sich die Zahl der von Depressionen betroffenen Teenager in den USA seit 2010 mehr als verdoppelt.

Online „unterbehütet“

Der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt umschreibt diese Gruppe als „Generation Angst“. Sein gleichnamiges Buch ist gerade auf Deutsch erscheinen und schon ein Bestseller. Haidt skizziert darin, wie sich die jungen Menschen „aus der realen Welt in die virtuelle Welt zurückziehen, mit verheerenden Konsequenzen für sie selbst, ihre Familien und ihre Gesellschaft“. Er sagt: „Kinder werden in unserer Welt zwar nicht mehr überbehütet, aber online unterbehütet.“ Der Soziologe ruft deshalb zum Handeln auf. Eltern, Lehrer, Schulen, Technologieunternehmen und Regierungen seien gefordert, „um die Epidemie psychischer Erkrankungen zu beenden und eine menschlichere Kindheit wiederherzustellen“. Ein Zurück, so der Wissenschaftler, sei aber meist nur mit Hilfe anderer zu bewältigen.

Jonathan Haidt, Jahrgang 1963, ist Professor für Psychologie und Moralpsychologie der New Yorker Stern School of Business und zählt laut Wikipedia zu den 50 einflussreichsten lebenden Psychologen und zu den meistzitierten Forschern der Politik- und Moralpsychologie.
Jonathan Haidt, Jahrgang 1963, ist Professor für Psychologie und Moralpsychologie der New Yorker Stern School of Business und zählt laut Wikipedia zu den 50 einflussreichsten lebenden Psychologen und zu den meistzitierten Forschern der Politik- und Moralpsychologie.Foto: Mathieu Asselin

Um den Betroffenen einen – wenn auch virtuellen – Treffpunkt zu ermöglichen, unterhält Jonathan Haidt eine eigene Website und einen Instagram-Account namens „Free the anxious generation“ (Befreit die angsterfüllte Generation). Dort können sich Betroffene und Interessierte informieren und austauschen. In Reels sprechen Smartphone-Abhängige vom Druck, der auf ihnen lastet. Wie schnell und oft unbewusst der Weg in die Sucht sein kann, zeigen abschreckende Videos. Immer wieder wird dort zur Aktion „Phone Free Friday“, also dem handyfreien Freitag aufgerufen. 25.000 Follower hat Haidts Instagram-Account schon. Es könnten aber bald durchaus mehr werden.

Zurück ins echte Leben?

Denn: Das Thema Digital Detox findet gerade eben erst Eingang in Medien und Social-Media-Kanäle. Neue Start-ups bieten handyfreie Wochenenden an, es gibt Hotels, die am späten Nachmittag das WiFi abschalten, Trips in entlegene Wälder, wo es kein Netz gibt, Entwöhnungskuren hinter Klostermauern und so weiter. Alle haben das Ziel, uns von einem Dasein hinter den Bildschirmen ins echte Leben zurückzuholen. Diese Rückkehr in die Realität sei mehr als dringlich, meint auch Jonathan Haidt: „Wir können es uns nicht mehr leisten, weiterhin die psychologischen Schäden eines Lebens zu ignorieren, das sich nur noch auf dem Handy abspielt.“

Weitere Infos:

Die deutsche Ausgabe des New-York-Times-Nummer-1-Bestsellers „The Anxious Generation“.
Die deutsche Ausgabe des New-York-Times-Nummer-1-Bestsellers „The Anxious Generation“.Foto: Rowohlt

„Generation Angst“ von Jonathan Haidt

Die New York Times schrieb über das Buch: „Ein wichtiges Buch … Die Verlagerung der Energie und Aufmerksamkeit der Kinder von der physischen Welt in die virtuelle hatte, wie Haidt zeigt, katastrophale Folgen.“

Oprah Daily, das Magazin von Oprah Winfrey, urteilte: „Eine Abrechnung mit unserem Smartphone-basierten modernen Lebensstil. Haidt erklärt im Detail, wie es zur Gesundheitskrise unser Kinder und Jugendlichen kommen konnte – und warum sie sich immer weiter verschärft.“

Und der britische Guardian: „Dringlich und unverzichtbar … Das Buch könnte zum Gründungsdokument werden für eine wachsende Bewegung, die dafür kämpft, Smartphones aus Schulen zu verbannen und junge Kinder von Social Media fernzuhalten.

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