
Wunderbare Weckrufe
Die gerade beendete Haute-Couture-Woche in Paris für den Sommer 2025 hat vier lange Schauentage Glanz, Glamour und das damit verbundene Verkehrschaos an die Seine gebracht: Zur hohen Kunst der Schneiderei gesellt sich bereits seit einigen Jahren auch die Haute Joaillerie, die hohe Juwelierkunst, die ihrerseits den vollen Terminkalender weiter auffüllt. Das höchste Genre der Mode, das Anfang der Nullerjahre eine schwere Krise durchschritt, ist so lebendig wie seit Jahren nicht mehr und trotzt sogar der aktuellen Luxuskrise.

Haute Couture – Mode für Milliardäre
„Die Welt ist vollgestopft mit Geld. Es gibt Familien, die haben so ein kolossales Vermögen, dass für sie der Preis einer Haute-Couture-Robe eine Kleinigkeit ist“, sagt Elie Saab, einer der erfolgreichsten Modeschöpfer dieses Luxuszweigs. Die Reichen, die sich Haute Couture leisten können, so weiß der Libanese, sitzen überall auf der Welt, und sie sind auf der Suche nach Roben für Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen oder einfach eine schicke Party. Dazu kommen Schauspielerinnen und – ja, auch –Schauspieler– und VIPs, die ein Outfit für den roten Teppich brauchen.


Roben, Roben, Roben
Was passt zu diesen Anlässen? Ganz genau: Abendroben, Abendroben, Abendroben! Doch eben an diesem immer gleichen Produkt krankt die Haute Couture. Dem Genre geht es hervorragend, das Umsatzvolumen beläuft sich nach Schätzungen auf rund zwölf Milliarden Euro, Tendez steigend, aber das Gros der an der Semaine de la Haute Couture teilnehmenden Modehäuser entwickelt sich nicht wirklich weiter. Vor rund zehn Jahren kam schon einmal eine junge Generation ans Ruder, die Mode wurde experimenteller, aber die meisten fanden damit keine Kundschaft und mussten aus mangelnder Rentabilität ihre „Haute Couture Maisons“ wieder schließen.

Revoluzzer in Rente
Während die „Wilden“ in die Insolvenz schlitterten, verkauften sich die reich bestickten Traumroben weiter wie geschnitten Brot. Doch wo ist das Labor geblieben, das die Haute Couture einst war? Die Revolutionäre des Genres sind alle nicht mehr da oder kopieren sich endlos selbst: Martin Margiela, der mit seine Artisanal-Linie Upcycling betrieb, bevor dieses Wort überhaupt bekannt war, hat sich anderen Dingen zugewandt, macht in Kunst. John Galliano, der früher für Dior und danach für Margiela die Branche aufmischte, hat seinen Vertrag auslaufen lassen und ist gerade arbeitslos. Viktor & Rolf waren einst innovativ, aber recyceln seit geraumer Zeit nur noch ihre alten Ideen. Iris van Herpen, die Niederländerin, die in spektakulärer Weise Wissenschaft mit Mode verbindet, pausiert diese Saison. Viele andere sind komplett vom Mode-Radar verschwunden.

Brust geht immer
Blicken wir also auf die aktuelle Saison und das Gezeigte. Die Trends sind schnell aufgezählt:
Transparenz und Spitze punkten in fast allen Kollektionen. Man zeigt wieder Brust. Das Thema ist uralt und war schon immer einen Ladenhüter. Denn wer kann es sich schon leisten, „oben ohne“ aus dem Haus zu gehen? Selbst auf dem roten Teppich erntet man damit meist nur einen Shit Storm oder einen Eintrag für einen Fashion-Fauxpas.

Federn statt Pelz
Federn sind ein anderer Schwerpunkt. Auch dieser Trend ist leicht zu erklären: Eigentlich ist Pelz derzeit wieder ziemlich „in“, aber nachdem die meisten Häuser eine „Fur-free-Strategie“ verfolgen, also keinen Pelz mehr verwenden wollen, sind sie in der Zwickmühle. In der Haute Couture echten Pelz durch Plastikpelz zu ersetzen, kommt nicht gut an. Das geht in der Prêt-à-Porter gerade noch, aber bei Roben, die mehrere Hunderttausend Euro kosten, ist das ein No-Go. Also nimmt man Federn. Ob das nun tierfreundlicher ist, lasse ich dahingestellt.

Schwarz-Weiß: ausnahmsweise spektakulär
Schwarz-Weiß ist ein Trend, der immer geht und niemals aus der Mode kommt. Schaut immer toll aus, aber ist das neu? Nicht wirklich. Außer, wenn Stéphane Rolland, der Meister des Schwarz und Weiß, den Trend dekliniert.


Marie Antoinette oder so ähnlich
Als letztes großes Trendthema ist diese Sommersaison noch der Reifrock zu erwähnen, der eigentlich immer nur dann ein Revival erlebt, wenn ein Historienfilm vorher einen Oscar gewonnen hat. Nun also kommen die künstlich breiten Hüften, die eine schmale Taille zaubern und in der Mode gern als „Marie-Antoinette-Look“ bezeichnet werden, ohne Vorlage zurück. Ein Hingucker sind sie allemal, aber alltagstauglicher wird dieses Bekleidungsobjekt dadurch nicht. Obwohl man die Reifrock-Version von Christian Dior, ein durchsichtiger Hauch von Nichts mit textilen Röschen bestickt, schon als außergewöhnliche Handwerkskunst preisen muss.


Männer wollen auch Couture
So, das war es denn dann auch schon mit den aktuellen Trends. Der Rest besteht aus bestickten Roben oder Jacken für Männer, denn die wollen sich seit ein paar Saisons auch in Haute Couture gewanden.

Junge Wilde und ein „Altmeister“
Das alles wäre nun ziemlich langweilig, wenn nicht ein paar junge Designer und ein Älterer, nämlich Allessandro Michele, das Genre aufmischen würden.
Der Ex-Gucci-Designer, der für seine eklektischen Styles bekannt ist und im Oktober 2024 bereits eine Ready-to-Wear-Kollektion für seinen neuen Arbeitgeber Valentino vorgestellt hat, bringt das ehrwürdige römische Modehaus zurück in die Haute Couture. Und zwar mit einem Paukenschlag!


Ritt durch die Jahrhunderte
Michele, der gern mal die bunten Siebziger mit Oma-Outfits und gehäkelten Ringelsöckchen mixt, lieferte eine Explosion seiner Kreativität: Ein modischer Ritt durch mehrere Jahrhunderte mit einem Best-of von dekorativen Elementen, die dieses Genre in seiner langen Geschichte hervorgebracht hat: Biedermeier-Kleid zu Rokoko-Rüschen, japanischer Kimono zu Taftschleife, indische Pumphose auf Barock-Brokat-Stoff, bestickte Tracht zur Lurex-Volants, eine Krinoline des 16. Jahrhunderts zu einem gewagten Ausschnitt des 21. Jahrhunderts und so weiter. Jeder Look ein Treffer und jeder Look ein Manifest gegen eine eingeschlafene und in sich selbst verliebte Haute Couture-Branche. Die Kollektion wirkt wie ein Weckruf an die ganze Zunft.


Eine Chance für die Jungen
Zu Michele gesellen sich ganz junge Designer, die mit ihren verrückten Ideen in der Prêt-à-Porter eher verloren wirken, aber in der Haute Couture neue Maßstäbe setzen.
Für Jean Paul Gaultier, der, großzügig wie er nun mal ist, sein wunderbares Haus und das dazugehörige Archiv jede Saison einem anderen Designer als Spielwiese öffnet, war Ludovic de Saint Sernin verpflichtet worden. Wie immer hatte der Auserwählte freie Hand und de Saint Sernin entschied sich für das Thema „Naufrage“, zu deutsch Schiffbruch. Ein Make-up, das auch im Kultfilm „Fluch der Karibik“ gut gepasst hätte, wurde kombiniert zu einer modernen und erotischen Definition von Gaultier-Klassikern wie dem Bustier, dem Korsett und aufreizender Männer-Haute Couture.


„Ich wollte Jean Paul eine Kollektion schenken, die ihn zum Lächeln bringt, die ihm Freude bereitet und die gleichzeitig meiner eigenen Arbeit treu bleibt. Meine Absicht war es wirklich, eine Brücke zwischen unseren beiden Welten zu schlagen, aber auch, ihn auf persönliche Weise zu ehren“, sagte de Saint Sernin danach. Genau das ist ihm gelungen.


Sportswear X Haute Couture
Zurückhaltender, weniger eye-catching, aber extremst modern ist auch die Haute Couture Kollektion von Peet Dullaert, einem niederländischen Designer und Woolmark-Price-Gewinner, der gekonnt Sportswear mit Haute Couture mischt.

Couture kann auch Kreislauf
Modern im Anspruch, bei der Kreation auch nachhaltig zu sein, ist die Kollektion von Ronald van der Kemp, der aus Restbeständen von Stoffen, Vintage-Federn, Lederresten und gebrauchten Wandbespannungen plus handgewebten thailändischen Seidenstoffen eine bunte Kollektion mit dem Titel „Let the Sun shine in“ zauberte.


Genialer Bruch mit allen Codes
Und zuallerletzt muss man den 33-jährigen Schweizer Kevin Germanier erwähnen, der zum allerersten Mal den Schritt in die Haute Couture wagte und dort ein Spektakel an Farben und ungewohnten Materialien ablieferte. „Wer hat gesagt, dass dieser oder jener Stoff hässlich ist? Wer sagt, dass dieser Stoff oder diese Farbe ein Fashion-Fauxpas ist? Das ist mir egal. Ich nehme all das und breche damit die Codes“, sagt der Central-Saint-Martin-Absolvent.



Germaniers Modelle sind überladen, too much und genau deshalb genial. Es sind zu viele Kristalle, zu viele Perlen, zu viel gerüschter Wollstrick, zu überladene Dekorationen und viel zu viele Farben, und trotzdem ist diese Kollektion weit mehr Haute Couture als die üblichen, schön bestickten Seidenroben der anderen Designer. Denn Kevin Germaniers Kollektion wagt, probiert Neues aus, ist ein Labor der Mode und überrascht in all ihren Facetten. Wunderbar!

