
Ja zur Kraft der Schönheit
Lange Zeit wurde die Unterführung des Brooklyn-Queens Expressway in New York von den Gästen der umliegenden Bars als öffentliche Toilette missbraucht. Das änderte sich, als der Designer Stefan Sagmeister die schmuddeligen Tunnelwände mit dem Schriftzug „Yes“ in Kunstwerke verwandelte. Die neue Gestaltung veränderte die Atmosphäre des Ortes und verpasste der Unterführung ein komplett neues Image. Mittlerweile lassen sich Hochzeitspaare vor dem Schriftzug fotografieren und die Unterführung ist bei Passanten und Touristen beliebt. Niemand käme mehr darauf, sie als Pissoir zu missbrauchen.

„Schönheit kann uns verwandeln. Sie kann verändern, wie wir uns fühlen und wie wir uns benehmen“, erklären Sagmeister und die Designerin Jessica Walsh in ihrem Buch „Beauty“. Aus ihrer Sicht gilt das sowohl für Gegenstände des Alltags, als auch für die Stadt- und Verkehrsplanung, sprich: die Gestaltung im öffentlichen Raum.
Warum wir mehr schöne Straßen und Plätze zum Verweilen und Flanieren brauchen
Doch bei Forschung, Planung oder Design im Bereich der Mobilität taucht der Begriff „Schönheit“ praktisch nie auf. Er ist den meisten wissenschaftlich Tätigen zu unpräzise. Aber auch sie beobachten und erforschen genau, wie Fuß- oder Radwege, Warteräume oder auch Stadtmöbel auf die Menschen wirken.

Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Emotionen rückt zunehmend in den Mittelpunkt, wenn es darum geht, aktive Mobilität – also das Zufußgehen oder das Radfahren – zu fördern und zu steigern. Forschenden und Sachverständigen ist bewusst: das Angebot muss deutlich besser werden. Vielleicht auch um einiges schöner.
„Unser Blick verweilt beim Schönen”
Aber was macht Schönheit oder eine schöne Umgebung überhaupt aus? „Unsere Forschung zeigt, dass Schönheit unseren Blick anzieht und bindet. Unser Blick verweilt bei dem Schönen“, sagt Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien. Eine schöne Umwelt erzeuge automatisch eine Sequenz von glücklich machenden Momenten. „Sie wirkt wohltuend, dort bin ich gerne unterwegs, weil ich dort Impulse empfange, die mir guttun“, sagt Leder.
Wissenschaftler wie der Experte für den Fußverkehr, Helge Hillnhütter, Professor und Stadtplaner an der Norwegischen Universität für Naturwissenschaften und Technik, verwenden den Begriff „Schönheit“ in ihrer Arbeit zwar nicht. Allerdings untersucht Hillnhütter, wann Menschen eine Umgebung oder einen Stadtraum als angenehm empfinden. Das ist immer dann gegeben, wenn der Mix stimmt aus Grünanlagen, Schaufenstern, stimulierenden Fassaden, anderen Menschen, einem gestalteten Stadtraum und Sicherheit. Außerdem hat er festgestellt, dass Fußgänger am meisten auf das reagieren, was sich in ihrem Radius in fünf bis sechs Meter Entfernung befindet.

Hillnhütters Forschungsergebnisse kennt jeder auch aus der eigenen Erfahrung: Wer an großflächigen Fassaden entlanglaufe, empfinde den Weg schnell als langweilig und der Weg erscheint länger. Wenn es obendrein noch dunkel oder laut sei und es übel rieche, summierten sich die negativen Empfindungen. Das führe dazu, dass man beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr zu Fuße gehe, sofern eine andere Optionen bestehe.
Reisezeiten zu Fuß und im ÖPNV sind identisch
Lange Zeit wurde der Fußverkehr von der Verkehrsforschung vernachlässigt. Hillnhütters Studien zeigen: Das ist ein Fehler. „Wir gehen überall und ständig zu Fuß“, sagt der Wissenschaftler. Selbst wer mit dem Auto unterwegs ist, geht vom Parkplatz zu einem Geschäft in einem Einkaufszentrum drei bis sechs Minuten zu Fuß. Eklatant sind jedoch die Wege, die Fahrgäste von Bus, S- und U-Bahn zurücklegen. Hillnhütter hat all Wege-, Warte- und Umsteigezeiten addiert und festgestellt: „Die Reisezeit, die wir als Fußgänger beim Gehen, Warten und Umsteigen im öffentlichen Raum verbringen, ist fast genauso lang wie die Zeit als Passagier im Verkehrsmittel.“

Für Städte und öffentliche Verkehrsbetriebe ist das eine wichtige Information. „Meistens wissen wir überhaupt nicht, was während des Teils der Reise passiert, der zu Fuß zurückgelegt wird“, sagt Hillnhütter. Dabei ist die Qualität dieser Wege und auch die Wartesituation ausschlaggebend für die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs.
„Räume haben auch eine psychische Dimension”
Warten an Haltestellen und auf Bahnsteigen ist in Deutschland oft kein Vergnügen. Professor Peter Eckart und Prof. Dr. Kai Vöckler von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach erforschen seit Jahren unter anderem, wie das Design von Bahnhofshallen, Bahnsteigen und Zu- und Ausgängen das Mobilitätsverhalten der Menschen beeinflusst. „Räume haben neben ihrer praktischen Dimension auch eine psychische Dimension mit symbolischen und ästhetischen Aspekten“, sagt Eckart. Das bedeutet, die Menschen sollen sich intuitiv in einem Bahnhofsgebäude zurechtfinden. Sie sollen sich aber auch willkommen fühlen, sich also wohl- und wertgeschätzt fühlen.
Für Eckart ist das ein wichtiger Aspekt. Er sagt: „Wenn ich als Kunde die U-Bahn oder S-Bahn nutze, möchte ich mit meinen unterschiedlichen Bedürfnissen wahrgenommen und wertgeschätzt werden.“ Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Warteräume oder Zu- und Ausgänge von S- und U-Bahnhöfen sind vor allem praktisch. Das spiegeln die Sitzmöbel aus Gittergeflecht wider. Peter Eckart: „Das Gittergeflecht soll Obdachlose davon abhalten, sich dort auszuruhen und ist zudem leicht zu reinigen.“
Ästhetische Möbel verkürzen Wartezeiten
Mittlerweile hat bei der Deutschen Bahn ein Umdenken begonnen. Mit ihrem Projekt „Zukunftsbahnhof“ will das Unternehmen Fahrgästen und Besuchern die Zeit am Bahnhof angenehm gestalten. Vöckler und Eckart haben im Rahmen des Projekts „Zukunftsbahnhof Offenbach“ für eine S-Bahnhaltestelle vorgeschlagen, dort Sitzmöbel aus Holz zu installieren. „Der Pflegeaufwand ist zwar höher, aber bereits das hochwertige Material drückt die Wertschätzung gegenüber dem Kunden aus“, sagt Professor Eckart. In einer Studie mit Kognitionspsychologen hat er festgestellt, dass Menschen gerne auf Holzmöbeln sitzen und sie sich wohlfühlen. Infolgedessen erscheint ihnen die Wartezeit kürzer. „Was wiederum die Kundenzufriedenheit steigert“, sagt Kai Vöckler

Dieser Anspruch muss aus Sicht der beiden Exberten auf den gesamten Umweltverbund angelegt werden. „Momentan wird er aber gar nicht als System zusammen gedacht“, sagt Eckart. Weder von der Politik, den Planern oder auf organisatorischer Ebene. Das sei aber für die Verkehrswende entscheidend. „Das Ziel muss sein, dass die Menschen, wenn sie aus der U- oder S-Bahn aussteigen, intuitiv erfassen, wo der Ausgang ist und auf dem Weg dorthin erkennen, was sie in 100 bis 200 Metern an Mobilitätsangeboten vorfinden“, sagt Eckart.
Katja Striefler, zuständig für den Fachbereich Verkehr in der Region Hannover, stimmt dem zu: „Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken“, sagt sie. Nur dann könne sichergestellt werden, dass Menschen jeden Alters und auch Frauen den Umweltverbund nutzen. Wer bei der Planung dann noch den Schönheitsaspekt einbeziehe, habe eine lebenswerte Stadt, eine lebenswerte Gemeinde oder ein lebenswertes Dorf.
Clock Tower als Wegweiser
Ein Klassiker, der die Aspekte Ästhetik, Wegweisung und Mobilitätsknotenpunkt kombiniert, ist die Turmuhr an englischen Bahnhöfen.„Den Clock Tower findet man an fast jedem Bahnhof in England“, sagt Professor Eckart. Der Wiedererkennungswert sei immens. Jeder in England wisse: Beim Clock Tower ist der Bahnhof. Ein Forschungsprojekt hat laut Eckart gezeigt: Die große Uhr wirkt beruhigend, selbst auf die 18- bis 25-Jährigen. Zudem haben die Reisenden stets die Uhrzeit im Blick. Diesen Aspekt haben die beiden Wissenschaftler auf eine Station am Offenbacher Marktplatz übertragen. Die Ankommenden sehen auf digitalen Infowürfeln sämtliche Abfahrten von Bus- und S-Bahn nebst Richtungsanzeigen. „Sie wissen sofort, ob sie den Zug noch erreichen oder laufen müssen“, sagt er.

Das Wissen darüber, wie Menschen den dicht bebauten Stadtraum erleben, was ihnen gefällt oder wo ihr Blick hinfällt, wird schon lange untersucht. Forschende messen inzwischen, wie der Körper auf die Umgebung reagiert. Helge Hillnhütters Studien zeigen, dass wir eine Umgebung brauchen, die uns stimuliert. Eine zentrale Rolle spielt dabei, was wir sehen.
Deshalb sind laut Hillnhütter die Fußgängerzonen in Innenstädten so beliebt. Das bunte Treiben mit Straßenkünstlern, unterschiedlichsten Angeboten von Kunst bis zum Café wirke stimulierend. Wer dort unterwegs ist, schätzt Entfernungen deutlich kürzer ein. Die Distanzempfindung kann in unterschiedlichen Stadträumen durch solche Einflüsse laut Hillnhütter um bis zu 30 Prozent variieren.
Schöner Verkehr funktioniert besser
Für den Schönheitsforscher Helmut Leder und die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher steht jedoch fest: Schönheit und ästhetische Wertigkeit im öffentlichen Raum sind kein „nice to have“. „Mit ihnen funktioniert der Straßenverkehr besser“, sagt Elisabeth Oberzaucher.
Ein klassisches Beispiel ist für sie die Mariahilfer Straße in Wien. In der im Jahr 2015 neu geschaffenen Begegnungszone wurde die Fahrbahn mit großzügigen Blumenkübeln und weitläufigen Sitzecken so verjüngt, dass die Autos dort automatisch mit maximal 30 Kilometern pro Stunde oder langsamer unterwegs sind. „Dort funktioniert das Tempolimit über die Gestaltung, man braucht keine Schilder“, sagt sie.

Die niedrige Geschwindigkeit erzeugt mehr Gleichheit unter den Verkehrsteilnehmern. „Sie begegnen sich eher auf Augenhöhe“, so die Wissenschaftlerin. Dieser Respekt setzt sich in der Fußgängerzone fort. Dort sind in den Sommermonaten rund 5000 Radfahrer unterwegs und das Miteinander zwischen Fuß- und Radverkehr funktioniert.
„Diese Begegnung auf Augenhöhe stärkt das individuelle Sicherheitsempfinden, aber erhöht auch die Sicherheit im Allgemeinen“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Das sei gut für die Verkehrswende. Denn auf diese Weise entscheiden Menschen über die intuitive Ebene, sich eher aktiv zu bewegen, als ins Auto zu steigen.


Stimulierende Wirkung von Grünanlagen
Eines der bekanntesten Beispiele, wie die Umgestaltung eines Raums sein Umfeld zum Positiven verändern kann, ist die High Line in New York. Die 2,6 Kilometer lange stillgelegte Hochbahntrasse sollte eigentlich abgerissen werden. Seit ihrer letzten Fahrt Ende der 1980er-Jahre verkam die Trasse immer mehr und mit ihr die Viertel entlang der Strecke. Abfallberge, Kriminalität, Drogen und der Straßenstrich prägten die Gegend.
Dann gründete sich eine Nachbarschaftsinitiative, die die Trasse begrünen wollte. Die Idee fand Zuspruch. Heute ist die High Line ein Paradebeispiel für gelungene Gestaltung im öffentlichen Raum – eine Oase für die Anwohnerschaft am Rand Manhattans. Zwischen den Grünflächen finden regelmäßig Veranstaltungen statt und es werden wechselnde Kunstobjekte ausgestellt. Mit der High Line veränderte sich auch ihre Umgebung. Die drei Distrikte, die sie quert, sind zu Szenevierteln geworden mit Galerien, Cafés und renovierten Straßenzügen.


Wuppertal: Imagewandel zum Radlerparadies
Wie sich eine solche Erfolgsgeschichte wiederholen lässt, zeigt die Nordbahntrasse in Wuppertal. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben die vergessene und zugewucherte Bahnlinie in den vergangenen 17 Jahren in eine 23 Kilometer lange Flaniermeile für alle umgebaut, die mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs sind. Heute verbindet der Freizeitweg im Norden der Stadt fünf Bezirke miteinander und beschert Wuppertal einen immensen Imagewandel: von der Pleitestadt zum Radlerparadies. Seit ihrer Eröffnung haben sich entlang der Trasse Restaurants, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen angesiedelt. Wer im Norden der Stadt lebt und arbeitet, nutzt die Flaniermeile zum Pendeln mit dem Fahrrad.

Die High Line und die Nordbahntrasse haben das Leben in den angrenzenden Vierteln komplett verändert. Diese beiden Projekte zeigen eindrucksvoll, was Gestaltung im öffentlichen Raum bewirken kann. Ein neuer Freiraum in Laufnähe für die Wohnbevölkerung. Menschen jeden Alters sind dort zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und erleben gleich mehrere schöne Momente: die grüne Umgebung, die Ruhe durch den fehlenden Autoverkehr, den Blick aus der Vogelperspektive auf die umliegenden Stadtteile und immer wieder auch Kunstobjekte entlang der Route.
„Wenn die Bewegungsumgebung so attraktiv gestaltet ist, dann bedeutet das nicht nur, dass wir sie gerne für aktive Mobilität nutzen, sondern, dass wir uns dort auch lieber aufhalten. Das bedeutet, wir entschleunigen“, sagen Leder und Oberzaucher. Hinzu kommt: Es werden Freizeitfahrten mit dem Auto vermieden. Die Anwohnerinnen und Anwohner kommen zu Fuß oder per Rad zur Nordbahntrasse.
„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet“, sagt Helmut Leder. Wir können durch eine schöne, ästhetische Gestaltung des öffentlichen Raums das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt enorm heben. Er sagt: „Wenn wir es nicht tun, verschenken wir das eigentliche Potenzial unserer engen Städte.“
Was macht Orte lebenswert? Wie beeinflusst Design unser Verhalten im Verkehr? Und warum ist Schönheit mehr als ein ästhetischer Bonus?
Vertiefende Einblicke zum Thema Gestaltung im öffentlichen Raum bieten diese Bücher, Studien und Projekte:
- Helge Hillnhütter: Der Weg zu Fuß zur Haltestelle – ein blinder Fleck in der Mobilitätsforschung?
- Helmut Leder: EVA Labs an der Universität Wien
- Stefan Sagmeister & Jessica Walsh: „Beauty“
- Elisabeth Oberzaucher: „Homo Urbanus”
- Kai Vöckler, Peter Eckart, Martin Knöll, Martin Lanzendorf: „Mobility Design Mobility Design – Die Zukunft der Mobilität gestalten”
* Zusätzliche Hinweise zum Bild von Elisabeth Oberzaucher
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