Mittwoch, 9. Oktober 2024
Mittwoch, 9.10.24
Logo Substantial Times
Magazin für modernes Leben
Drei Models mit hauchdünnen Nylon-Kleidern von Anrealage zeigen auf dem Laufsteg, wie sich die Kleider mit Wind aufblasen lassen. Video: Anrealage
Kolumne

Wind of Changemakers

Unsere Autorin Barbara Markert mag eigentlich keine Gimmicks in der Mode. Ihr Credo: Mode muss tragbar sein und nicht nach Karneval aussehen. Hier macht sie eine Ausnahme und erklärt, warum.
Video: Anrealage

Ja, die Mode von Anrealage mag auf den ersten Blick ein bisschen komisch wirken und nach Karneval aussehen, aber Anrealage gehört zu den wenigen Modehäusern, die die Mode wirklich nach vorn bringen, weil sie etwas Neues ausprobieren.

Anrealage Défilé Frühjahr/Sommer 2025 auf der Pariser Modewoche. Der japanische Modeschöpfer Kunihiko Morinaga ist dafür bekannt, die Grenzen zwischen Mode und Technologie auszuloten. In seiner jüngsten Kollektion geht er der Frage nach: Wie sieht Wind aus? Video: Anrealage

Das Bild zeigt ein Model mit einem aufgeblasenen Kleid in Grün.
Der japanische Modeschöpfer Kunihiko Morinaga ist angetreten, die Grenzen zwischen Mode und Technologie auszuloten. Für die Frühjahr/Sommer-Kollektion 2025 betrachtet er die Kunst des An- und Ausziehens mit Hilfe des Windes und nutzt die natürliche Bewegung der Luft, um der Kleidung Leben einzuhauchen.Foto: Anrealage

Auf der Suche nach der Mode der Zukunft

Der Designer hinter dem Label aus Tokio, Kunihiko Morinaga, steht für mich auf der gleichen Stufe wie Stella McCartney, Nicolas Ghesquière, den Jungs von Coperni – Sébastian Meyer und Arnaud Vaillant – und natürlich Satoshi Kondo, der aktuelle Designer der Marke Issey Miyake. Alle diese Designer wagen neue Wege, probieren neue Stoffe aus und versuchen, die Mode in die Zukunft weiterzuentwickeln. Auch wenn manche Projekte scheitern oder sich manche Schritte als falsch erweisen, ist diese kreative Anstrengung sehr hoch zu schätzen, denn Innovationen werden immer seltener in der Mode.

Ein Model auf dem Catwalk zeigt ein weißes, aufgeblasenes Kleid, das aussieht, wie eine weiße Blume mit vielen Blüten.
Auf Knopfdruck bläst Wind, der von kleinen eingebetteten Ventilatoren erzeugt wird, die Entwürfe von Anrealage zu Proportionen auf, die an Wesen aus einer anderen Welt erinnern. Wie Windsäcke lassen die Looks voluminöse Formen wie Flügel oder Blasen sprießen.Foto: Anrealage

Kleider mit dem Gewicht einer Olive

Aber zurück zu dieser Kollektion, die Anrealage gerade auf der Pariser Modewoche gezeigt hat. Sie heißt Wind. Es geht also um bewegte Luft und wie sie ein Textil verändern kann. Alle Modelle waren aus Nylon. Einer Chemiefaser, um die ich als Anti-Plastik-Kämpferin eigentlich einen großen Bogen mache. Aber dieses Nylon ist neu: Es ist das feinste Nylon, das es derzeit auf dem Markt gibt. Der Faden ist nur ein Drittel so dick wie ein menschliches Haar. Feiner geht es kaum. Verwebt wiegt der Stoff nur 23 Gramm auf einen Quadratmeter. Ein Gewicht vergleichbar mit dem einer größeren Olive oder zwei Erdbeeren.

Ein Model präsentiert ein aufgeblasenes Kleid in Bonbon-Rosa.
Kunihiko Morinaga entwirft mit seiner Kollektion eine poetisch-bizarre und dabei zutiefst positive Zukunftsvision, die Spaß mit technologischen Lösungen zur Anpassung an die neuen Herausforderungen des Lebens auf der Erde verbindet.Foto: Anrealage

Der Wind kreiert abstrakte Figuren

In die Nylon-Jacken ist eine – von außen eine unsichtbare – Fön-Technik eingebaut, die auf Knopfdruck die Textilien aufbläst und sie in kunstvolle und abstrakte Figuren umformt. Der Effekt erinnert manchmal an Blumengebilde, manchmal an Kreise, manchmal an grafische Skulpturen und ist ebenso verblüffend wie ungewohnt.

„Die Windjacken sind eine Kombination aus Wind, der in ihnen enthalten ist, und einem Schutz vor dem Wind von außen“, erklärt Designer Kunihiko Morinaga. Im normalen Zustand hängen die Stoffe wie drapiert am Körper, aufgeblasen wird aus den Windbreakern fast schon eine Art Haute Couture.

Ein Model präsentiert eine Kombination aus Rock und Bluse, beides stark aufgeblasen und in kräftigen Farben bedruckt.
Looks, die mit Kyoceras nahezu komplett wasserfreier Tintenstrahldrucktechnologie hergestellt wurden, zeigen Color Blocking und abstrakte Motive, die sich mit dem Wind zu wechselnden Mustern formen.Foto: Anrealage

Textildruck ohne Wasser

Doch die ausgeklügelte Windtechnik und das neue Nylon sind nicht die einzigen Neuheiten, die Anrealage in seiner außergewöhnlichen Schau liefert. Das bunte Color Blocking der Nylon-Outfits ist mit kaum einen Tropfen Wasser entstanden: Möglich wird das durch eine neue Drucktechnik namens „Forearth“, entwickelt von der japanischen Firma Kyocera. Laut der Pressemitteilung des Herstellers braucht es in der Regel rund 150 Liter Wasser, um ein Kilogramm Stoff zu bedrucken. Bei der neuen Technik Forearth sind es für die gleiche Menge nur 0,02 Liter Wasser.

Statt zahlreicher Druck- und Waschvorgänge erlaubt das Verfahren ein schlankes Zwei-Stufen-System: einen Druck- und einen Trocknungsvorgang. Dadurch wird der Print-Prozess beschleunigt und kann dank der Zeiteinsparung besser an die gewünschte Bestellmenge angepasst werden. Überproduktion wird vermieden. Im Augenblick ist das Verfahren für Baumwolle, Seide, Polyester und Nylon erprobt und einsetzbar.

Ein Model präsentiert einen zum Ballon aufgeblasenen Minirock und eine zur großen Wolke aufgeblasene Bluse, beides weißgrundig mit bunten Tupfen bedruckt.
Wie Wolken entwickeln sich die windgefüllten Formen aus ihrem ursprünglichen Zustand heraus und fließen wie Blütenblätter, wenn die Models den Laufsteg überqueren, wobei ihre belüfteten Volumen mit jeder Bewegung mittanzen.Foto: Anrealage

Die Poesie der Technologie

Es steckt eine gewissen Poesie in dieser Kollektion von Kunihiko Morinaga, die durch neue Techniken erzeugt wird. Die Kleidung ist ebenso surreal wie fantasievoll. Oder wie es der Designer ausdrückt: „Die reale Welt trifft eine unreale Welt, hervorgerufen durch die unsichtbare und unvorhersehbare Kraft des Windes.“

Ein Model präsentiert ein rein schwarzes, aufgeblasenes Minikleid.
Kunihiko Morinaga öffnet mit seinen Kreationen die Tür zu einem surrealen, aber realisierbaren Universum. Angetrieben von der unsichtbaren, unberechenbaren Kraft, die der Wind ist.Foto: Anrealage
Ein Model präsentiert eine weiße aufgeblasene Bluse und einen großen zum Ballon aufgeblasenen Rock in Hellblau.
Windbreaker-Jacken halten den Wind ein und verwandeln die Kleidungsstücke in Wärmeschutzschilde. Die Couture-Looks bieten eine skurrile Variante der formellen Kleidung, bei der sich die Kleider zu außergewöhnlichen Formen aufblähen.Foto: Anrealage

Über Anrealage

Anrealage ist ein japanisches Modelabel, das 2003 von Kunihiko Morinaga gegründet wurde. Das Label ist bekannt für seine experimentellen und avantgardistischen Designs, die oft Technologie und Mode verbinden. Anrealage spielt mit Größenverhältnissen, Formen und Materialien, um innovative Kleidungsstücke zu schaffen, die visuelle und funktionale Überraschungen bieten. Typisch für die Kollektionen sind starke Kontraste zwischen Licht und Schatten sowie High-Tech-Stoffe, die auf äußere Einflüsse wie Licht oder Temperatur reagieren. Morinaga hinterfragt mit seiner Mode traditionelle Vorstellungen von Kleidung und Ästhetik.

Kunihiko Morinaga wurde 1980 in Kunitachi, Tokio, geboren. Noch während seines Studiums an der Tokioter Waseda-Universität begann er mit der Herstellung von Kleidung an der Vantan Design Academy und gründete 2003 seine eigene Marke Anrealage, eine Kombination aus den Wörtern „Real“, „Unreal“ und „Age“.

Der Name der Marke entstand aus dem Wunsch des Designers, „reale“ Kleidung für den täglichen Gebrauch zu kreieren und dabei ultimative Dimensionen, originelle Konzepte und einzigartige Elemente zu verwenden. In seinen Kollektionen kommen drei Schlüsselelemente zum Einsatz: Handarbeit, konzeptionelle Formgebung und Technologie.

2014 nahm Anrealage erstmals an der Pariser Modewoche teil, beginnend mit der Saison Frühjahr/Sommer 2015.

Ein Model präsentiert einen Ballonrock mit einem voluminösen Oberteil, beides aus Tweed.
Und so sehen die Looks dann „auf die Straße heruntergebrochen“ aus: Outfit aus einem voluminösem Ballonrock aus Tweed mit einem stachelartig aufgeblasenen Blouson, ebenfalls aus Tweed. Foto: Anrealage
Ein Model präsentiert einen voluminösen Blouson zur schmalen Hose, beides aus Tweed.
Outfit aus einem voluminösem Blouson aus Tweed mit passender schmaler Hose.Foto: Anrealage
envelopeexit-upcrossarrow-up