Donnerstag, 16. Januar 2025
Donnerstag, 16.01.25
Logo Substantial Times
Magazin für modernes Leben
Ein Bild, das Farbigkeit, Grafiken, Kunst, Grafikdesign enthält. Foto: Mohamed Melehi Estate/VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Casablanca Art School

Postkoloniale Avantgarde

In Casablanca entstand in den 1960er-Jahren eine aktivistische Kunstbewegung, der die Frankfurter Schirn Kunsthalle gerade eine große Schau widmete. Es lohnt sich, sich näher mit den Werken des Marokko nach dem französischen Protektorat zu befassen.
Foto: Mohamed Melehi Estate/VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Marokko – schon beim Gedanken an das Land entstehen im Kopf Bilder aus Tausendundeiner Nacht, vom Meer, dem Atlasgebirge und den Weiten der Sahara, von Beduinen mit ihren Dromedaren, dem zentralen Platz von Marrakesch, dem glamourösen Hotel La Mamounia mit seiner orientalischen Architektur, und von den Gärten von Majorelle, Refugium des Modeschöpfers Yves Saint Laurent und seines Lebensgefährten Pierre Bergé.

Und wenn von Casablanca die Rede ist, startet vor dem geistigen Auge sofort der legendäre Film, in dem Dooley Wilson in der Bar von Humphrey Bogart für Ingrid Bergman „As Time Goes By“ singt.

Dass Marokko noch viel mehr zu bieten hat als diese Klischees, hat die Frankfurter Schirn Kunsthalle gerade mit der Ausstellung „Casablanca Art School – eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987“ gezeigt.

Die Schirn Kunsthalle zeigte das einflussreiche Werk der Casablanca Art School in einer großen Ausstellung. Der begleitende Film gibt Einblicke in das Werk der wichtigsten Vertreter dieser innovativen Schule, die schnell zu einem zentralen Impulsgeber für die Entwicklung der postkolonialen Moderne in der Region wurde. Video: Schirn Kunsthalle Frankfurt

Marokko nach dem Protektorat

Gut vier Jahrzehnte stand das Königreich Marokko unter französischem Protektorat, bis es 1956 von Frankreich in die Unabhängigkeit entlassen und Casablanca zu einem pulsierenden Zentrum kultureller Erneuerung wurde.

Das Schwarz-Weiß-Bild von 1965 zeigt 16 Personen, Künstler und Studierende vor einer Wand mit grafischer Kunst.
Der italienische Künstler Agostino Bonalumi (stehend in der Mitte) besucht 1965 die Malwerkstatt von Mohamed Melehi und seine Studentinnen und Studenten an der Kunstschule von Casablanca. Zu seiner Linken sind Farid Belkahia und Mohammed Chebâa, sitzend Mohamed Melehi.Foto: Toni Maraini Archive, for kind concession of The Agostino Bonalumi Milan Archive

Im postkolonialen Casablanca

Wenige Jahre nach der Unabhängigkeit gründete 1962 eine Gruppe marokkanischer Künstler die Casablanca Art School, um eine postkoloniale, moderne Kunst für ihr Land zu entwickeln. Farid Belkahia (1934–2014), Mohammed Chabâa (1935–2013) und Mohamed Melehi (1936–2020) stellten das künstlerische Kern-Trio der Schule dar, sie konzipierten das Kunststudium und die Kunst in Marokko völlig neu: lokale künstlerische Traditionen der Vergangenheit wurden mit der sozialen Wirklichkeit und den gestalterischen Ideen des Bauhauses verwebt, um so einen neuen Ansatz für Kunst, Handwerk, Design und Architektur zu finden.

Das Bild zeigt ein an afrikanische Kunst erinnerndes Gesicht mit Oberkörper und Armen, in Braun und Beigetönen gehalten.
Farid Belkahia, Cuba Si, 1961, Ölfarbe auf Papier auf Sperrholz, 62,6 x 44,6 cm.Foto: Foundation Farid Belkahia. Tate: Erworben mit Mitteln des Middle East North Africa Acquisitions Committee 2016/VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Beschäftigung mit dem afrikanischen Erbe

Wichtig für die Entwicklung eines künstlerischen Selbstverständnisses war die Beschäftigung mit dem afrikanischen Erbe. Auf Exkursionen untersuchten die Studierenden die lokale Archäologie, Keramik, Kalligrafie, religiöse Gemälde sowie Techniken der Weberei, Lederverarbeitung, Schmuckherstellung und Tätowierung.

Das Bild zeigt abstrakte Formen in verschiedenen Texturen und Stofflichkeiten.
Mustapha Hafid, I belong to you, 1975, Mischtechnik auf Leinwand, 68,5 x 80 cm, Sammlung des Künstlers.Foto: Mustapha Hafid

Kulturelles Erbe als Inspiration

Lehrende und Studierende der Kunsthochschule von Casablanca entdeckten das lokale kulturelle Erbe als Inspirationsquelle für ihre Kunst. Sie verbanden abstrakte Kunst mit arabischen Traditionen und ließen sich in ihrer Kunst und Lehre von den Teppichen, dem Schmuck, der Kalligrafie und den Deckenmalereien der Region inspirieren.

Das Bild zeigt bunte grafische Formen, teilweise auf kariertem Raster.
Mohammed Chabâa, Ohne Titel, 1977, Acrylfarbe auf Leinwand, 75 x 95 cm, Mohammed Chabâa Estate.Foto: Fouad Mazouz

Kunst im öffentlichen Raum

Nachdem es auch mehr als ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit für marokkanische Künstlerinnen und Künstler noch immer schwierig war, Räume oder Galerien zu finden, in denen sie ihre Werke ausstellen konnten, präsentierten sie ihre Arbeiten auf öffentlichen Plätzen, an Mauern und in Parks. So brachten sie die Kunst in den Alltag der Städte, schufen Gemälde, Plakate, Zeitschriften sowie Wandgemälde im öffentlichen Raum und organisierten Festivals. Im Mai 1969 zeigten sie erstmals ihre Werke auf dem Platz Djemaa el Fna in Marrakesch und wenige Wochen später auf der Place du 16 Novembre in Casablanca.

Ein Bild, das draußen, Rad, Landfahrzeug, Fahrzeug enthält.
Programmatische Manifesto-Ausstellung Présence Plastique, Place du 16 Novembre, Casablanca, Juni 1969.Foto: Atala estate/archives

Verschönerung des Alltags

Die Dozentin Toni Maraini beschrieb die Ausstellung wie folgt: „Menschen aus allen Lebensbereichen (Stadt oder Land und aus allen gesellschaftlichen Klassen) finden in einer besonderen Geisteshaltung zusammen. Wir haben unsere Arbeiten hier für zehn Tage aufgehängt […], um sie außerhalb der geschlossenen Türen von Museen und Salons zu zeigen, in denen dieses Publikum nie gewesen ist."
Die Kunstschaffenden der Casablanca Art School nutzten die vielseitigen Möglichkeiten des Grafikdesigns, um ihre Kunst im öffentlichen Leben zu platzieren.

Um diese in den Alltag der Menschen zu bringen, entwickelte die Casablanca Art School gemeinsam mit Architekten und Architektinnen sowie weiteren Unterstützern eine Vision für eine öffentliche Kunst und die Neubelebung vernachlässigter öffentlicher Räume und Stadtviertel. Ihnen allen gemeinsam war die Vision einer Verschönerung des Alltags, wobei sie Kunst mit sozialem Fortschritt gleichsetzten. Sie verband die Suche nach einer spezifisch marokkanischen Identität mit internationalen Ambitionen sowie der künstlerischen und politischen Solidarität zwischen unabhängigen arabischen Nationen.

Ein Bild, das Schuhwerk, Kleidung, Screenshot, Quadrat enthält.
Wandgemälde von Mohammed Chabâa, Asilah-Kulturfestival, Asilah, Marokko, 1978.Foto: Mohamed Melehi/Mohamed Melehi Estate

Asilah Kulturfestival

Das jährlich in Asilah stattfindende internationale Kulturfestival Asilah Moussem Culturel ist berühmt für seine Ausstellungen unter freiem Himmel, seine Wandgemälde, seine Performance-Veranstaltungen und Musik. Es wurde 1978 von Mohamed Melehi und dem Politiker Mohamed Benaïssa in Zusammenarbeit mit Toni Maraini ins Leben gerufen und verwandelt die nordmarokkanische Heimatstadt der beiden Gründer in eine Landschaft aus Straßenausstellungen und Fresken.

Das Festival in Asilah existiert noch heute; es ist ein Vermächtnis des Aktivismus der Kunsthochschule von Casablanca und dem Ziel, die Kunst zu dekolonisieren und zu demokratisieren. Jahr für Jahr bringt das Festival moderne Kunst in die Gemeinde und zu all jenen, die keinen Zugang zu Museen haben.

Ein Bild, das Kleidung, Kunst, Bild, Zeichnung enthält.
Wandgemälde im Entstehen, Asilah Moussem Culturel, 1978.Foto: Mohamed Melehi/Mohamed Melehi Estate
Bild mit zwei Kreisen, die sich überschneiden, darunter silbrig-beigefarbene ornamentale Ranken, alles in den Farben Blau und Gelb-Orange.
Malika Agueznay, Ohne Titel, 1986, Mischtechnik auf Leinwand, 120 x 87 cm.Foto: The artist. Courtesy of private collection, Marrakech

Größte Werkschau der Casablanca Art School

In ihrer Ausstellung von rund 100 Werken präsentierte die Schirn Kunsthalle in Frankfurt Arbeiten der Dozentinnen, Dozenten und Studierenden der Casablanca Art School und vermittelte einen profunden Einblick in die postkoloniale Avantgarde des nordafrikanischen Landes, die in diesem Umfang in Deutschland bisher nicht zu sehen war.

Ein Bild, das Rechtecke, Schwarzweiß, Muster enthält.
Houssein Miloudi, Ohne Titel, 1967, Acryl auf Karton, 119 x 197 cm.Foto: The Estate of the Artist. Courtesy of Private Collection, Marrakech

Weitere Infos

Schirn Kunsthalle Frankfurt

Katalog

envelopeexit-upcrossarrow-up