Postkoloniale Avantgarde
Marokko – schon beim Gedanken an das Land entstehen im Kopf Bilder aus Tausendundeiner Nacht, vom Meer, dem Atlasgebirge und den Weiten der Sahara, von Beduinen mit ihren Dromedaren, dem zentralen Platz von Marrakesch, dem glamourösen Hotel La Mamounia mit seiner orientalischen Architektur, und von den Gärten von Majorelle, Refugium des Modeschöpfers Yves Saint Laurent und seines Lebensgefährten Pierre Bergé.
Und wenn von Casablanca die Rede ist, startet vor dem geistigen Auge sofort der legendäre Film, in dem Dooley Wilson in der Bar von Humphrey Bogart für Ingrid Bergman „As Time Goes By“ singt.
Dass Marokko noch viel mehr zu bieten hat als diese Klischees, hat die Frankfurter Schirn Kunsthalle gerade mit der Ausstellung „Casablanca Art School – eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987“ gezeigt.
Die Schirn Kunsthalle zeigte das einflussreiche Werk der Casablanca Art School in einer großen Ausstellung. Der begleitende Film gibt Einblicke in das Werk der wichtigsten Vertreter dieser innovativen Schule, die schnell zu einem zentralen Impulsgeber für die Entwicklung der postkolonialen Moderne in der Region wurde. Video: Schirn Kunsthalle Frankfurt
Marokko nach dem Protektorat
Gut vier Jahrzehnte stand das Königreich Marokko unter französischem Protektorat, bis es 1956 von Frankreich in die Unabhängigkeit entlassen und Casablanca zu einem pulsierenden Zentrum kultureller Erneuerung wurde.
Im postkolonialen Casablanca
Wenige Jahre nach der Unabhängigkeit gründete 1962 eine Gruppe marokkanischer Künstler die Casablanca Art School, um eine postkoloniale, moderne Kunst für ihr Land zu entwickeln. Farid Belkahia (1934–2014), Mohammed Chabâa (1935–2013) und Mohamed Melehi (1936–2020) stellten das künstlerische Kern-Trio der Schule dar, sie konzipierten das Kunststudium und die Kunst in Marokko völlig neu: lokale künstlerische Traditionen der Vergangenheit wurden mit der sozialen Wirklichkeit und den gestalterischen Ideen des Bauhauses verwebt, um so einen neuen Ansatz für Kunst, Handwerk, Design und Architektur zu finden.
Beschäftigung mit dem afrikanischen Erbe
Wichtig für die Entwicklung eines künstlerischen Selbstverständnisses war die Beschäftigung mit dem afrikanischen Erbe. Auf Exkursionen untersuchten die Studierenden die lokale Archäologie, Keramik, Kalligrafie, religiöse Gemälde sowie Techniken der Weberei, Lederverarbeitung, Schmuckherstellung und Tätowierung.
Kulturelles Erbe als Inspiration
Lehrende und Studierende der Kunsthochschule von Casablanca entdeckten das lokale kulturelle Erbe als Inspirationsquelle für ihre Kunst. Sie verbanden abstrakte Kunst mit arabischen Traditionen und ließen sich in ihrer Kunst und Lehre von den Teppichen, dem Schmuck, der Kalligrafie und den Deckenmalereien der Region inspirieren.
Kunst im öffentlichen Raum
Nachdem es auch mehr als ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit für marokkanische Künstlerinnen und Künstler noch immer schwierig war, Räume oder Galerien zu finden, in denen sie ihre Werke ausstellen konnten, präsentierten sie ihre Arbeiten auf öffentlichen Plätzen, an Mauern und in Parks. So brachten sie die Kunst in den Alltag der Städte, schufen Gemälde, Plakate, Zeitschriften sowie Wandgemälde im öffentlichen Raum und organisierten Festivals. Im Mai 1969 zeigten sie erstmals ihre Werke auf dem Platz Djemaa el Fna in Marrakesch und wenige Wochen später auf der Place du 16 Novembre in Casablanca.
Verschönerung des Alltags
Die Dozentin Toni Maraini beschrieb die Ausstellung wie folgt: „Menschen aus allen Lebensbereichen (Stadt oder Land und aus allen gesellschaftlichen Klassen) finden in einer besonderen Geisteshaltung zusammen. Wir haben unsere Arbeiten hier für zehn Tage aufgehängt […], um sie außerhalb der geschlossenen Türen von Museen und Salons zu zeigen, in denen dieses Publikum nie gewesen ist."
Die Kunstschaffenden der Casablanca Art School nutzten die vielseitigen Möglichkeiten des Grafikdesigns, um ihre Kunst im öffentlichen Leben zu platzieren.
Um diese in den Alltag der Menschen zu bringen, entwickelte die Casablanca Art School gemeinsam mit Architekten und Architektinnen sowie weiteren Unterstützern eine Vision für eine öffentliche Kunst und die Neubelebung vernachlässigter öffentlicher Räume und Stadtviertel. Ihnen allen gemeinsam war die Vision einer Verschönerung des Alltags, wobei sie Kunst mit sozialem Fortschritt gleichsetzten. Sie verband die Suche nach einer spezifisch marokkanischen Identität mit internationalen Ambitionen sowie der künstlerischen und politischen Solidarität zwischen unabhängigen arabischen Nationen.
Asilah Kulturfestival
Das jährlich in Asilah stattfindende internationale Kulturfestival Asilah Moussem Culturel ist berühmt für seine Ausstellungen unter freiem Himmel, seine Wandgemälde, seine Performance-Veranstaltungen und Musik. Es wurde 1978 von Mohamed Melehi und dem Politiker Mohamed Benaïssa in Zusammenarbeit mit Toni Maraini ins Leben gerufen und verwandelt die nordmarokkanische Heimatstadt der beiden Gründer in eine Landschaft aus Straßenausstellungen und Fresken.
Das Festival in Asilah existiert noch heute; es ist ein Vermächtnis des Aktivismus der Kunsthochschule von Casablanca und dem Ziel, die Kunst zu dekolonisieren und zu demokratisieren. Jahr für Jahr bringt das Festival moderne Kunst in die Gemeinde und zu all jenen, die keinen Zugang zu Museen haben.
Größte Werkschau der Casablanca Art School
In ihrer Ausstellung von rund 100 Werken präsentierte die Schirn Kunsthalle in Frankfurt Arbeiten der Dozentinnen, Dozenten und Studierenden der Casablanca Art School und vermittelte einen profunden Einblick in die postkoloniale Avantgarde des nordafrikanischen Landes, die in diesem Umfang in Deutschland bisher nicht zu sehen war.