Kein Voyeurismus
Amedeo Modigliani – von der Kunstgeschichte weitgehend als melancholischer, grillenhafter, zynischer Exzentriker mit einem Hang zu Alkohol und Drogen beschrieben, stets unterstützt von seiner adeligen Familie und doch gebeutelt von der Tuberkulose, die ihn schon in frühen Jahren befiel. Das von der Hasso Plattner Foundation getragene Museum Barberini in Potsdam präsentiert im Rahmen des deutsch-italienischen Kulturjahres 2024 eine umfassende Ausstellung der Werke von Amedeo Modigliani und bietet einen neuen Blick auf den Künstler, der emanzipierte Frauen portraitierte und sich in den intellektuellen Kreisen von Paris Anfang des 20.Jahrhunderts behauptete.
Im Paris der 1920er-Jahre
Der aus dem italienischen Livorno stammende Amedeo Modigliani kam nach Studienjahren an den Universitäten von Venedig und Florenz 1906 mit 22 Jahren nach Paris und wurde schnell eine der auffallendsten Erscheinungen unter den exzentrischen jungen Malern im Pariser Künstlerviertel Montmartre. Unablässig sein Quartier wechselnd, von Kneipe zu Kneipe ziehend, traf er sich mit den Künstlern des Bateau-Lavoir, einem heruntergekommenen Gebäude auf dem Montmartre, in dem junge Künstler wie Pablo Picasso, Juan Gris und Kees van Dongen ein günstiges Atelier fanden. Dort kamen sie mit den Avantgardisten Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau und vielen anderen zusammen und diskutierten die Themen der Zeit.
Die Femme Garçonne
Die Ausstellung „Modigliani. Moderne Blicke“ im Potsdamer Museum Barberini zeigt ihn als Künstler, der seinen Blick auf die moderne Frau legt, und stellt seine Werke zeitgenössischen Künstlern wie Gustav Klimt, Pablo Picasso, Egon Schiele und Paula Modersohn-Becker gegenüber. Die Ausstellung zeigt ihn als Chronisten eines erstarkenden weiblichen Selbstbewusstseins in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs. Modigliani portraitierte emanzipierte Frauen mit Kurzhaarfrisur und Männerkleidung, die "femme garçonne".
Freundeskreis auf dem Montmartre
Während des Ersten Weltkriegs entstanden Modiglianis Freundschaftsbilder als Manifestation einer Künstlergemeinschaft frei von nationalistischem Denken. Mit dieser Bilderreihe setzte er nicht nur einer Gruppe experimentierfreudiger Künstler der Avantgarde ein Denkmal, die sich in ständigem Austausch befand, sondern begründete auch seinen unverwechselbaren Stil.
„Er war schön, ernst und geheimnisvoll. So wie er uns an den Tischchen der Rotonde zeichnete, immer aufs Neue, so beurteilte er uns, empfand, liebte oder widerlegte er uns.“
Jean Cocteau
Jean Cocteau beschreibt Modigliani so: „Er war schön, ernst und geheimnisvoll. So wie er uns an den Tischchen der Rotonde zeichnete, immer aufs Neue, so beurteilte er uns, empfand, liebte oder widerlegte er uns. Sein Zeichnen war ein stummes Gespräch, ein Dialog zwischen seiner Linie und unserer Linien.“
Verlängerte Formen, geknickte Achsen
Modigliani leistete seinen Betrag zur modernen Kunst, indem er die Willkür zur Regel machte, Formen verlängert, verzerrt, Achsen knickt, Kontraste bildet, die Flächen verschiebt und dadurch seinen „Expressionismus“ erschafft. Er entwickelt dadurch einen unverwechselbaren Stil: Er erfasste das Gegenüber in konfrontativer Frontalität, stellte es flächig und linear vereinfacht dar. Wie kubistische Gemälde vereinen seine Portraits mehrere Perspektiven. Der Blick der Portraitierten richtet sich oft – durch pupillenlose Augen – nach innen und gleichzeitig nach außen. Seine außerordentlich subjektive Kunst wirkt zerbrechlich und unaufdringlich.
Der Bildhauer Brancusi führte ihn in die afrikanische Kunst ein, deren Masken in ihrer Flächigkeit und Abstraktion nicht nur bei Modigliani nachhaltigen Einfluss hinterließen.
Die „burschikose“ Frau
Unter die Künstler am Montparnasse mischten sich zahlreiche Malerinnen, Bildhauerinnen, Modeschöpferinnen und Schriftstellerinnen verschiedener Nationalitäten. Paris ermöglichte ihnen einen unkonventionellen, unabhängigen Lebensstil. Modigliani erfasste in seinen Portraits das neue Frauenbild der „femme garçonne“ – die „burschikose“ Frau –, das sich zur gleichen Zeit nur bei Malerinnen wie Jeanne Mammen oder Émilie Charmy findet und danach erst wieder in der Neuen Sachlichkeit in den 1920er-Jahren. Mit seinen Bildnissen wurde Modigliani zum Chronisten eines neuen Selbstbewusstseins von Frauen, die während des Ersten Weltkriegs in vielen Bereichen der Gesellschaft Verantwortung übernahmen.
Akt und Emanzipation
In seinen Aktdarstellungen kombinierte Modigliani Tradition und Moderne: Die Posen erinnern an Venusdarstellungen der italienischen Renaissance, führen jedoch moderne Frauenfiguren vor Augen. Wie vor ihm Paula Modersohn-Becker und zu seiner Zeit Émilie Charmy arbeitete er mit Bildanschnitten und Nahsicht. Bei seiner ersten und einzigen Einzelausstellung 1917 in der Galerie Berthe Weill führten Modiglianis Aktgemälde zu einem Skandal. Dabei schockierten die Zeitgenossen möglicherweise weniger die Nacktheit als vielmehr die dem Schönheitsideal der femme garçonne entsprechenden schlanken Körper und die selbstbewussten Blicke der Dargestellten, die eine damals ungewohnte Unabhängigkeit der Frau zum Ausdruck brachten.
Zuflucht im Süden. Helle Farben, stille Gesten
1918 verließ Modigliani mit anderen Künstlern das von deutschen Truppen bedrohte Paris und suchte in Südfrankreich Zuflucht. Die vierzehn Monate währende Trennung von der Pariser Kunstszene bedeutete eine Zäsur. Im lichtvollen Süden hellten sich die Farben seiner Portraits auf. Er traf dort Pierre-Auguste Renoir, und seine frühe Begeisterung für die Portraits von Paul Cézanne lebte wieder auf. Modigliani malte sein Gegenüber nach wie vor frontal und flächig, doch das Konfrontative wich einer stillen Zurückhaltung. Seine Portraits sind von reservierter Kühle wie bei Gustav Klimt oder vermitteln existentielle Unsicherheit wie in Egon Schieles Kinderbildern. Zurück in Paris verstarb Modigliani Anfang 1920 an Tuberkulose.
Weitere Infos
Die Ausstellung „Modigliani. Moderne Blicke“ ist bis zum 18. August 2024 im Potsdamer Museum Barberini zu sehen.
Adresse: Museum Barberini, Alter Markt, Humboldtstraße 5–6, 14467 Potsdam
Öffnungszeiten: Montag sowie Mittwoch bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr.
Außerordentlich empfehlenswert ist die kostenlose Barberini App, die per Audioguide ausgewählte Exponate beschreibt. App Store und Google Play Store: Museum Barberini.