
Die Macht des Weiblichen
Ein Biopic ohne Bilder: Der neue Film über Niki de Saint Phalle darf ihre Kunstwerke nicht zeigen. Ein Porträt über eine Künstlerin, die selbst zur Leinwand wurde.

Ein Biopic ohne Bilder: Céline Sallettes mutiges Filmdebüt
Derzeit läuft in den deutschen Kinos das Regie-Debüt der französischen Schauspielerin Céline Sallette („Haus der Sünde“) mit dem Biopic „Niki de Saint Phalle“ über die französisch-amerikanische Künstlerin. Niki de Saint Phalle (1930-2002) ist eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit ihrem Werk kämpfte sie unerschrocken für den Feminismus und war ihrer Zeit weit voraus.
Die kanadische Schauspielerin Charlotte Le Bon verkörpert die Frau und Künstlerin Niki de Saint Phalle frappierend realistisch und ist ihr dazu fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Basierend auf ihren Autobiografien beschreibt der Film die Geschichte der feministischen Künstlerin – ohne deren Werke zu zeigen.
Die Enkelin Bloum Cardenas, Vorsitzende der Fondation Niki de Saint Phalle (nikidesaintphalle.org), hat jegliche Mitarbeit am Film verweigert und der Regisseurin untersagt, das Werk ihrer Großmutter zu zeigen. Warum? In dem Film wird der inzestuöse Missbrauch der Künstlerin durch ihren Vater thematisiert, den de Saint Phalle erst Ende der 1990er-Jahre in ihrer Biografie beschrieb. Bis heute liegt dieser Inzest wie ein Schatten über ihrem Werk.

Eine schwere Kindheit: Trauma, Tabus und der lange Schatten der Vergangenheit
Auch ohne den Blick auf ihre Arbeiten bewegt die Geschichte der Künstlerin. Ständig auf der Suche nach dem eigenen Selbst verlässt sie früh das ungeliebte Elternhaus und versucht sich als Modell, Schauspielerin und Mutter, bis sie 1953 nach einem psychischen Zusammenbruch die Malerei als ultimative Ausdrucksform entdeckt.
Inspiriert von einem Besuch des von dem spanischen Künstler und Architekten Antoni Gaudí gestalteten Park Güell in Barcelona beginnt sie verschiedene Materialien, kräftige Farben und „Objets Trouvés“ in ihrer Kunst einzusetzen. Alltagsgegenstände wie Knöpfe, Steine oder Kaffeebohnen dienen als dekorative Elemente in ihren Bildern.

Von Schießbildern zu Nanas: Das Leben der Niki de Saint Phalle
Später verarbeitete Niki de Saint Phalle auch Nägel, Scherben oder mit Farbe gefüllte Luftballons, die sie auf Holzplatten mit Gips oder Kunststoff fixierte. In einem Happening schoss sie selbst auf die Farbbeutel oder forderte gar die Zuschauer auf, mit einem Gewehr auf die Kunst zu schießen. Sie selbst sagt dazu in ihrer Biografie: „1960 war ich eine zornige Frau. Ich war bereit zu töten. Das Opfer, das ich wählte, waren meine eigenen Bilder. In meinen Schießbildern arbeitete ich kleine Farbbeutel hinter Gips ein und schoss auf sie. Dann bat ich den Betrachter, auf mein Bild zu schießen. Ich wurde zum Zeugen meiner eigenen Mordaktion. Die Bilder bluteten. Die weiße Oberfläche wurde mit ausspritzender Farbe bedeckt. Das Bild begann zu leben.“

Mit den Schießbildern, die sie französisch „Tirs“ nannte, gelang de Saint Phalle der Durchbruch und sie wurde Mitglied der Gruppe der „Nouveaux Réalistes“ in Paris und Nizza, zu der unter anderem Jean Tinguely, Yves Klein, der Objektkünstler Arman sowie Christo und Jeanne-Claude gehörten.
1963 entstand eine Reihe von Skulpturen und Objektbildern, von Müttern, Hexen, Huren und Bräuten. Mit diesem Werken setzte sich Niki de Saint Phalle mit der Rolle der Frau in der Nachkriegsgesellschaft auseinander. Diese Themen spielten fortan eine immer wichtigere Rolle in ihrem Werk. Inspiriert von der Schwangerschaft ihrer Freundin Clarice Rivers entstanden 1965 üppige Frauenfiguren aus Maschendraht, ummantelt von Pappmaché und Stoffresten, die sie Nanas nannte.

Matriarchat als Vision: Nanas, Tarot und die Macht des Weiblichen
Niki de Saint Phalles Nanas bleiben mit ihrer voluminösen Weiblichkeit Symbole für Mutterschaft, Fruchtbarkeit und das Matriarchat. Ihre rundliche, stark abstrahierte Form erinnert an steinzeitliche Figuren. Sie sagt dazu: „Ich sehe sie als Vorboten eines neuen matriarchalischen Zeitalters, von dem ich glaube, dass es die einzige Antwort ist. Sie repräsentieren die unabhängige, gute, gebende, glückliche Mutter.“
Die Nanas fanden fortan internationale Beachtung und gelten bis heute als ikonografische Skulpturen der Künstlerin. Die Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence im Süden Frankreichs zeigte 1968 im Rahmen der Ausstellung „L'art Vivant 1965–1968" eine „Maison Nana“, und die Stadt Hannover stellte 1974 unter zum Teil großen Protesten der Bevölkerung drei große Nanas am Ufer der Leine auf, die heute zu den begehrtesten Fotomotiven der Stadt zählen.

Das Vermächtnis: Eine Ehrenbürgerin und ihre Stiftung
Im Sprengel Museum Hannover (https://www.sprengel-museum.de/) fand im Jahr 1969 ihre erste Retrospektive statt, daher fühlte sich die Künstlerin der niedersächsischen Hauptstadt besonders verbunden und übergab im Jahr 2000 mehr als 400 Werke dem Sprengel Museum. Als erste und einzige Frau bis heute wurde Niki de Saint Phalle zur Ehrenbürgerin der Stadt Hannover ernannt.

Ein Garten der Träume – Der Tarot-Garten in der Toskana
1979 begann sie mithilfe ihrer Freundin, der Kunstsammlerin, Fotografin und Ehefrau von Gianni Agnelli, Marella Caracciolo Agnelli, den Bau des „Giardino dei Tarocchi“ (deutsch: Tarot-Garten), ein Kunst-Park in einem ehemaligen Steinbruch bei Garavicchio in der Toskana. Inspiriert von dem Kartenspiel Tarot de Marseille, das eher zum Wahrsagen als zum Spielen eingesetzt wird, schuf die Künstlerin 22 monumentale Skulpturen, die sie mit farbigen Mosaiksteinchen und Spiegelscherben besetzte und bunt bemalte.
Die „Kaiserin“, die so voluminös war, dass Niki de Saint Phalle mehrere Jahre während der Entstehungszeit des Tarot-Gartens darin wohnen konnte, entstand unter Mithilfe ihres Mannes Jean Tinguely und vieler weiterer lokaler Handwerker. In rund 20 Jahren schuf sie Skulpturen mit Namen wie Die Päpstin, Die Sonne, Der Bau des Lebens oder Der Drache, bis der Park 1998 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Als ein weiterer wichtiger Meilenstein gilt der von der Stadt Paris 1982 in Auftrag gegebene Strawinski-Brunnen vor dem Centre Pompidou, den sie gemeinsam mit Jean Tinguely gestaltete. 16 Skulpturen drehen sich in dem Becken, sprühen Wasser aus Objekten wie bunten Herzen, roten Lippen oder Schlangenmäulern.

Kommende Ausstellung „Love you for Infinity“ im Sprengel Museum Hannover
Das Sprengel Museum Hannover präsentiert vom 6. September 2025 bis 14. Februar 2026 die Ausstellung „Love you for Infinity“. Erstmalig werden die Werke der Künstlerinnen Niki de Saint Phalle, Yayoi Kusama und des Künstlers Takashi Murakami gemeinsam gezeigt. Durch die Schenkung, die de Saint Phalle im Jahr 2000 dem Museum machte, ist das Sprengel Museum im Besitz zahlreicher Werke aus verschiedenen Schaffensperioden. Neben den ikonischen Schießbildern und den üppigen Nanas werden Yayoi Kusamas „Infinity-Room“-Installationen bis hin zu Takashi Murakamis farbenprächtigen, poppigen Kaikai-Kiki-Motiven gezeigt.


So vereinen sich Malerei, Skulptur, Installation, Grafik und Film zu einer facettenreichen Schau, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der künstlerischen Handschriften der drei Kunstschaffenden aus den unterschiedlichen Kulturkreisen USA, Frankreich und Japan erlebbar macht.
Was für Niki de Saint Phalle die Nanas sind, sind für Yayoi Kusama ihre Polka-Dots und für Takashi Murakami die Comic-artigen Bilder und stilisierten Blumen, die weltweit zum Inbegriff seines Schaffens geworden sind. Die Ausstellung wird inhaltliche und ästhetische Verbindungen der drei Künstler zeigen, von überschäumender Lebensfreude, Liebe und Vergänglichkeit, Feminismus, diversen Sexualitäten und männlicher Dominanz, Utopien und Angst bis hin zur Kommerzialisierung der Kunst. Alle drei eint eine Vorliebe für kraftvolle, farbenfrohe Bildwelten, die die Grenzen zwischen Kunst, Popkultur und Kommerz sprengen.
Weitere Infos:
Trailer zum Biopic Niki de Saint Phalle
Ausstellung „Love you for Infinity“ im Sprengel Museum Hannover:
6. September 2025 bis 14. Februar 2026